„Sag was, Feli!“, fordert Pierre und sieht sie an.
Sie betrachtet ihn ernst und beginnt den Tisch zu decken.
„Ich wünschte, ich könnte dir widersprechen und etwas Sinnvolles und Hilfreiches zur Lage beitragen. Aber ich fürchte, meine Mittel sind von jetzt an erschöpft.“
Dann nimmt sie entschlossen auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz.
„Pierre, es gibt nur eine Möglichkeit, deinem Großvater die Stirn zu bieten.“
Pierre horcht auf.
„Du darfst ihn nicht merken lassen, wie sehr er dich verletzt. Tritt ihm entschieden entgegen, sei stolz und bemüh dich nicht um seine Gunst.“
Pierre starrt Felicitas an und versucht ihren Worten zu folgen. Die wohltuende Sanftheit ist aus ihrem Gesicht und ihrer Stimme gewichen, und er meint beinahe, sie spräche nicht mit ihm, sondern mit jemand anderem.
„Versuche nicht, an sein Familiengefühl zu appellieren und hoffe nicht auf Einsicht und Umkehr. Dein Großvater ist unbelehrbar und seine Meinung unumstößlich. Du kannst verzweifeln oder dich der Situation stellen und stärker werden.“
Was redet sie denn da? Pierre erkennt seine Tante nicht mehr.
„Natürlich werde ich mich der Situation stellen“, erklärt er lautstark. „Ich werde ihm sagen, dass ich nicht in dieses Internat gehen werde und mir nicht den Umgang mit dir verbieten lasse. Ich werde mich ihm entgegenstellen.“
Seine Entschlossenheit ist so rührend, dass Felicitas wieder weicher wird.
„Neschama scheli …“, sagt sie leise. So hatte ihre Mutter sie immer in besonders liebevollen Momenten genannt, sie und ihre Zwillingsschwester Camille. Und mit demselben Kosenamen hatten sie beide ihre Puppen in den Schlaf gewiegt. Erinnerungen an den kleinen Pierre erwachen. Wie sie ihn in den Schlaf gesungen hatte, wenn er bei ihr übernachtet hatte. Die Gutenachtgeschichten hatte er so sehr gemocht, jüdische Märchen. Und immer, wenn sie sanft sein Ohr gestreichelt hatte, war er eingeschlafen. Sie liebt ihren Neffen wie einen eigenen Sohn und legt ihre Hand auf seine.
„Pierre, du hast keine Ahnung, wer dich da erwartet. Es gibt keine Chance. Er hat das Recht auf seiner Seite, und bis zu deiner Volljährigkeit wirst du dich seinen Wünschen fügen müssen.“
Pierre donnert mit seiner Faust auf den Tisch, dass Geschirr und Besteck auf der Platte klirren. Seine Tante hält die Faust fest und sieht ihm tief in die Augen.
„Du hast die Wahl. Entweder du zerbrichst an deiner Trauer und deinem Kummer oder du besiegst ihn, indem du alles nimmst, was du kriegen kannst. Und das Beste, was dir dieser Mensch geben kann, sind die Ausbildung und ein Abschluss an einem Schweizer Internat, mit dem dir jedes Studium offen steht. Die einzige Mischung, mit der du einem Mann wie ihm erfolgreich entgegentreten kannst, ist Wissen, Selbstvertrauen und Entschlossenheit.“
Pierre ist gefangen von ihren Worten. Er sieht sie an, und eine Weile sitzen sie sich schweigend gegenüber. Es ist Felicitas gelungen, ein Korn zu pflanzen, das langsam keimt und ihm Kraft gibt. Noch ahnt er nicht, wie sehr er diese Kraft brauchen wird. Behutsam löst sie ihre Hand von seiner Faust und steht auf, um auf den Tisch zu stellen, was sie vorbereitet hat.
„Ich geh schnell duschen“, sagt er leise und verlässt die Küche.
Beide wissen, dass es eines der letzten gemeinsamen Sabbatessen für eine sehr lange Zeit sein könnte.
Das Duschwasser spült die Tränen weg. Angesichts der bevorstehenden Beisetzung seiner Eltern lässt sich ihr Tod nicht mehr verdrängen, und Pierre will die Woche nutzen, um sich richtig von ihnen zu verabschieden. Noch vor dem Begräbnis und noch bevor Fremde sein altes Zuhause betreten und neugierig ihre Blicke über Relikte eines glücklichen Familienlebens schweifen lassen, will er mit seiner Mutter und seinem Vater im Reinen sein. Außerdem hat er im Haus noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Das Sabbatessen, das normalerweise am Freitagabend stattfindet, ist ungewöhnlich schweigsam. Früher haben sie es oft zusammen mit Felicitas und ihrem früh verstorbenen Mann am langen Küchentisch im Haus gehalten. Das war immer eine lustige Runde. Die Kerzen wurden von Pierres Mutter möglichst genau achtzehn Minuten vor Sonnenuntergang angezündet und brannten gerade im Winter oft schon, bevor die anderen eintrafen. Immerhin gingen alle ihrem Beruf nach. Den Kiddush, die Segnung des Weines und die Heiligung des Sabbats, sangen alle gemeinsam. Obwohl Pierres Vater kein Jude war, hatte Yoram, Felicitas Mann, es ihm überlassen, den Segenspruch, den Bracha, zu sprechen und das Brot zu brechen. Auch, wenn das in streng gläubigen jüdischen Familien so vielleicht nicht praktiziert worden wäre: Diese Geste der Gemeinsamkeit vertiefte das Familiengefühl.
Das Sabbatessen gehörte zu den wenigen jüdischen Bräuchen, die Camille ins Familienleben integriert hatte. Ansonsten pflegte sie einige jüdische Gewohnheiten zusammen mit Felicitas und Yoram, so wie die Besuche der Synagoge oder die Teilnahme an Gemeindefesten, zu denen auch immer Pierre und sein Vater herzlich eingeladen waren. Nach Yorams Tod wurde der Sabbatbrauch natürlich beibehalten. Die jüdischen Einflüsse seiner Mutter hatten Pierre immer ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat gegeben, waren sie doch mit so viel Herzlichkeit und Wärme verbunden. Jetzt ist es Felicitas, die all das verkörpert, und Pierre möchte gar nicht daran denken, dass er sich bald auch von seiner Tante verabschieden muss.
„Du Feli, ich muss heute unbedingt noch mal ins Haus“, sagt er später am Tisch und Felicitas sieht auf.
„Hat das nicht Zeit bis morgen?“
„Nein, auf keinen Fall. Es gibt ein paar Dinge, die ich holen muss, bevor irgendwer dort herumwühlt“, erklärt Pierre.
Plötzlich fällt auch ihr ein, dass irgendwo unter Camilles Sachen das Tagebuch ihrer Mutter verborgen liegt. Sie erkennt, wie recht Pierre hat. Die Vorstellung, dass bald fremde Menschen im Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers herumlaufen, ist wirklich unerträglich. Aber sie wird nichts dagegen unternehmen können, denn der alte Lagrange wird für alles gesorgt haben. Nur das Buch darf unter keinen Umständen in seine Hände fallen. Niemals!
„Fährst du mich hin?“, fragt Pierre, und sie nickt.
„Natürlich. Du kannst den Wagen von mir aus bis unters Dach vollladen. Ich werde alles für dich aufbewahren“, versichert sie ihm, sehr verärgert über die unverhohlene Absicht von Gustave Lagrange, das Haus verkaufen zu wollen.
„Wie kann ein Mensch so gefühllos sein?“, fragt sie sich im Stillen nicht zum ersten Mal und weiß, dass zu dieser Vorgehensweise ein entscheidendes Maß an Kälte und Unmenschlichkeit gehört.
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