„Übrigens”, rief Marion nun dem Kriminalrat nach, „es wäre für uns trotz allem hilfreich, wenn Sie die Unterlagen hier ließen, die Sie da unterm Arm halten!“ Er holte tief Luft, legte dann die kleine Mappe wortlos auf Petzolds Schreibtisch und verließ den Raum. Na ja, Ironie gegen Ironie - oder - wie du mir so ich dir, das musste man mal ertragen.
„Frühstücken Sie jetzt schön und ausgiebig”, sagte sie zu Petzold, „damit Sie was im Magen haben, wenn Sie in die Pathologie gehen. Ich werde mich aufmachen zum Tatort, zu den bösen Geistern in den adeligen Kreisen.“ –
Am schmiedeeisernen Tor meldete sich Marion über die Sprechanlage in der gräflichen Villa an. Eine kugelrunde behäbige Hausdame öffnete und führte sie ins Arbeitszimmer zum Herrn Grafen.
„Schon wieder die Polizei”, knurrte der. „Ihr habt doch hier schon alles auf den Kopf gestellt.“
Dennoch wollte die junge Polizistin den Tatort inspizieren, ließ sich genau erklären, wer wann die Tote gefunden hatte, wer zur Tatzeit im Hause war und wer Zugang zu dem Anwesen hatte. Ihre nervende Angewohnheit, urplötzlich längst beantworte Frage zu wiederholen, um festzustellen, ob der Betreffende erst überlegen musste oder sich sogar in einem Widerspruch verfing, empörte den Grafen. Schließlich fühlte er sich im kommunalen Bereich als ein hohes Tier, und eine solche Behandlung wollte er sich nicht gefallen lassen.
Als er im Arbeitszimmer wieder hinter seinem Schreibtisch saß, formulierte er daher eine gräflich vornehme Warnung, die Marion nur mit einem leichten Grinsen quittierte. Sie erkundigte sich nach den Familienverhältnissen, hörte aufmerksam, was der Graf ihr dazu erzählte und las zugleich, was dazu in ihren Unterlagen stand. Und da schossen die Widersprüche und Ungereimtheiten wie Pilze aus dem Boden. Genau das liebte Marion in solch einer Situation; da konnte sie durch eigene Vermutungen, durch Bluffen und Unterstellungen die Leute oft sehr nutzbringend aus der Reserve locken.
Der um sein Ansehen peinlich bemühte Graf erlebte eine seiner schwersten Stunden. Wer erbt was? – Mit dieser Frage begann es. Aus welchem Grunde wurde ein Ehevertrag geschlossen? – Warum ist Andreas, der Bruder der Gräfin, der Haupterbe? – Was bleibt dem Grafen? – Gibt es weitere Erben? – Kinder? Nein. – Nein??
„Das ist offensichtlich die Unwahrheit”, sagte Marion streng. „Wo ist Ihr Sohn Markus?“ Der Graf verweigerte weitere Auskünfte; er werde sich an höchster Stelle gegen diese Behandlung beschweren. „Tun Sie das, es beeindruckt mich nicht im Geringsten. Ich werde Sie kurzerhand vorladen lassen und wenn Sie nicht erscheinen, schicke ich Ihnen ein wunderschönes grünes Taxi. Aber gemütlicher wird es dadurch für Sie nicht!“
Eine Tür öffnete sich, und herein humpelte ein etwas schief gebauter Mann, dessen Gesicht deutlich eine Behinderung anzusehen war. Der Graf erbleichte, sprang auf und wies ihn barsch aus dem Zimmer. „Markus?“, fragte Marion, einer Vermutung folgend. „Ich bin von der Polizei und habe ein paar Fragen an Sie.“
Der Angesprochene ging ein paar Schritte auf Marion zu, blieb plötzlich stehen und nahm eine drohende Haltung an. Er wolle nicht ins Gefängnis, zischte er. Die Polizistin solle verschwinden. Als diese sich nicht rührte, kam er auf sie zu und holte zu einem Schlag aus.
Marion wich einen kleinen Schritt nach links aus, wechselte blitzschnell das Standbein und schlug Markus ihren linken Fuß in die Kniekehle seines rechten Beines, während sie gleichzeitig mit aller Kraft einen Stoß gegen seine linke Schulter ausführte. Er verlor sofort das Gleichgewicht, stürzte zu Boden, und schon kniete sie auf seinem Rücken. Handschellen klickten. „Liegenbleiben!“, befahl sie und rief über ihr Handy eine Streife zur Verstärkung. Wenige Minuten später trafen die Kollegen ein. „Ab mit ihm zum Erkennungsdienst.“
Unter dem Vorwand, einen eventuellen Mittäter im Haus suchen zu müssen, forderte sie weitere Beamte an für eine gründliche Durchsuchung der Villa. Die Gunst der Situation galt es zu nutzen; denn bis sie einen offiziellen Durchsuchungsbescheid in Händen hätte, könnten Tage vergehen, - besonders wenn der Graf all seinen Einfluss spielen ließe. Nach Abschluss der Aktion kehrte eine höchst zufriedene Kommissarin an ihren Schreibtisch zurück.
Aber auch Kollege Petzold war nicht untätig gewesen. Trocken berichtete er: „Die Gräfin wurde in ihrem Bett gegen Mitternacht durch vier Messerstiche in Brust und Herz getötet. Zwei Stunden später wurde ihre Leiche dann noch einmal ermordet: durch vier Stiche in Brust und Herz. Mit demselben Messer, das wir gut sichtbar auf dem Nachttisch fanden. Mit bildschönen Fingerabdrücken.“
„Häh ...?!“, entfuhr es Marion ungläubig. Waren dem Täter Zweifel gekommen, ob die Gräfin wirklich das Zeitliche gesegnet hatte, und hatte er daher sicherheitshalber seine Tat zwei Stunden später wiederholt? – Oder war hier ein Verrückter am Werk? Markus zum Beispiel? Ein Vergleich der Fingerabdrücke bewies eindeutig, dass es seine waren. Nun fehlte noch das Tatmotiv. Das zu finden, sollte erst mal Aufgabe der Polizeipsychologen sein.
Marion widmete sich dem vermeintlichen Täter von einer anderen Seite. Zunächst ermittelte sie seine genaue Identität, um sich dann seinen Neigungen zu widmen. Er war ein nicht unbegabter Techniker, hatte sogar einige Jahre an einem Theater gearbeitet und dort gewünschte Spezialeffekte realisiert. Entlassen hatte man ihn wegen schizophrenem Verhalten; er lebte zeitweise in einer Welt von Geistern und Gespenstern. Im Keller des gräflichen Anwesens hatte man sein Labor entdeckt mit teuren optischen Geräten, Projektoren, Lichtleitern, Prismen, Lasern sowie Nebelkanonen, wie er sie einst am Theater nutzte. Kein Zweifel, die Geistererscheinungen, welche die Gräfin so erschreckt hatten, waren sein Werk. Stand das aber im Zusammenhang mit dem Mord?
„Bei Verrückten darf man nicht nach Logik fragen”, meinte Petzold, doch ganz so einfach mochte Marion das nicht sehen. Es gab noch Wichtiges zu klären. Wem zum Beispiel hatte die schwere Limousine gehört, die in der Tatnacht in der Nähe des gräflichen Anwesens von Spaziergängern gesehen wurde? Zu wem gehörten die Abdrücke schmutziger Schuhe, die man im Schlafzimmer der Toten gesichert hatte? Marion liebte penibel gründliche Recherchen; dringender Tatverdacht gegen Markus bedeutete noch längst keinen Beweis.
Beim erneuten Studium der Berichte von Pathologie und Spurensicherung rief sie plötzlich erbost aus: „Was ist denn das wieder für eine Schlamperei!? – Hat der Täter das Messer mit der linken oder mit der rechten Hand geführt? Das gehört doch da hinein, verdammt noch mal!“ Petzold bekam den Auftrag, dies zu klären und festzustellen, ob Markus Links- oder Rechtshänder war. Er musste die Tatwaffe mehrmals anfassen und in ein Kissen stechen, - eine Probe fürs Theater, gaukelte man ihm vor. Arglos folgte der Mann dieser Aufforderung. Er sagte sogar von sich aus verwundert, das sei ja sein Messer und er wolle es zurück haben.
Als er seine Recherche beendet hatte, stöhnte Petzold verzweifelt: „Der Täter ist Linkshänder, und der Markus ist Rechtshänder. Jetzt fangen wir also von vorn an.“
„Im Gegenteil.“ Marion schien mit dieser Auskunft sehr zufrieden und schüttelte geheimnisvoll den Kopf. Denn sie war zwischenzeitlich keineswegs untätig gewesen, sondern hatte die gräfliche Familie noch einmal näher durchleuchtet, Verwandte, Bekannte und ehemaliges Hauspersonal ermittelt und möglichst sogleich befragt. Und dabei geriet sie auch an die alte Martha Sennwald, die früher im Schloss Hohenburghof bei Paderborn als Kinderfrau angestellt gewesen war und den kleinen behinderten Markus zu betreuen hatte. Zunächst wollte sie nicht mit der Sprache heraus, obwohl Marion ihr andeutete, dass sie vor Gericht später ohnehin aussagen müsse. Als sie jedoch erfuhr, dass Markus in Haft war unter dem Verdacht, seine eigene Mutter erstochen zu haben, da meinte sie erschüttert, nun käme ja doch alles ans Tageslicht und berichtete unter Tränen die ganze traurige Geschichte des Hauses Hohenburghof.
Dem verblüfften Petzold erklärte Marion: „Ich denke, der Fall liegt nun klar. Lassen wir den armen Markus frei. Den wahren Täter kassieren gerade unsere Kollegen in Paderborn ein. – Kommen Sie mit zum Chef,