Gegen den Koloss. Achim Balters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Balters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752642
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in Trübsinn zu verfallen, wäre grundfalsch, reine Zeit- und Energieverschwendung. Eine Schwäche, die er später bereuen würde. Er ist an einer dramatischen Lebenswende angelangt, die er mit Besonnenheit meistern will.

      Richard Lindner, 41 Jahre alt, hat sein Leben nach seinen eigenen Entwürfen gestalten können. Deswegen fühlt er sich privilegiert, bildet sich darauf aber nichts ein. Er weiß sein Leben zu genießen. Er nimmt an, dass ihm eine schon recht stabile Konstruktion gelungen ist, die er weiterhin überprüft und verbessert. Er ist Architekt, schon als Kind wollte er es werden. Für ihn gibt es keinen besseren, auf seine Fähigkeiten und Neigungen abgestimmten Beruf. Es ist ein Spiegel, in den er gern blickt. Intelligenz, Kreativität, Schönheitssinn und eine gewisse Zeitgeist-Orientierung prägen sein Berufs- und Privatleben. Er ist erfolgreich, sieht gut aus und hält sich fit, was zu seinem fundierten Selbstbewusstsein beiträgt. Richard bezeichnet sich selbst als einen konstruktiven Menschen, weil das Entwerfen, Berechnen und Gestalten zu ihm gehört. Er ist davon überzeugt, dass er ein sinnvolles, am Positiven ausgerichtetes Leben führt. Gedanken, die Architektur und Natur miteinander verknüpfen, ziehen ihn an. Wahrscheinlich folgt die Natur bei ihren Bauplänen ja einem variablen Konstruktionsprinzip, das nie richtig zu entschlüsseln ist.

      Wenn sein Leben nicht so verläuft wie geplant, dann verarbeitet er das mit Einsicht und Disziplin. Er ist flexibel, vertritt aber auch energisch seine Überzeugungen. Weil er frühzeitig seine romantischen Illusionen durchschaut hat, leidet er nicht darunter, dass seine Ehe schon länger an scheidungsträchtigen Verschleißerscheinungen krankt, ihr Endstadium wahrscheinlich erreicht hat. Er muss nur noch konsequenter sein.

      Anders als andere zuvor, bietet ihm Birgit, seine neue Freundin, mehr als nur einen entspannenden Ausgleich zu seinem Ehekrampf. Birgit hat ihn überrascht, ihre Beziehung ist tiefer als erwartet. Jedes Mal, wenn er mit ihr zusammen ist, spürt er eine Nähe, die ihn beflügelt. Ein verheißungsvoller Neubeginn.

      Richard sagt sich, dass er mit seinem Leben eigentlich zufrieden sein könnte. Denn es wird ja von den Inhalten und Formen bestimmt, die für ihn wichtig sind, zu ihm gehören. Wenn es nur nicht dieses eine Drama gäbe, das seine Lebensfreude untergräbt, ihn belastet und erbost.

      Es ist dieser maßlos ausufernde Braunkohle-Schwachsinn, gegen den jeder Widerstand gescheitert ist, der den Lebensraum tausender Menschen vernichtet. Er, als konstruktiver Mensch, muss ertragen, dass auch er davon betroffen ist, ein Opfer dieser unaufhaltsamen Destruktion.

      Richard biegt von der Landstraße in eine holperige Nebenstraße ein, die an einer großen Pferdekoppel mit angrenzender Reithalle vorbeiführt. Über einem Waldstück kreist ein Bussard. Hinter Gebüsch am Rand einer Viehweide steht ein Hochsitz. Richard fährt an mehreren alten Pappeln vorbei, die in einer aufgelockerten Reihe die Straße flankieren. Seine Lieblingsbäume, sie haben eine klar strukturierte Schönheit, Grazie, erinnern ihn mit ihrem hochstrebenden schmalen Astwerk an die Zypressen der Toskana. Zwei jüngere Pappeln, die er vor sieben Jahren selbst gepflanzt hat, stehen nebeneinander an der Einfahrt zu seinem Haus. Er fährt langsam an der mächtigen Blutbuche vorbei, die, von der Sonne lackiert, den vorderen Teil des Parks beherrscht. Ziersträucher und Rosen unterteilen harmonisch die große Rasenfläche vor seiner Villa. Sie wird von Jugendstilelementen geprägt, die reizvoll die drei Geschosse umspielen. Ihre reiche, aber auch maßvolle Formensprache lässt sie nicht überladenen und süßlich erscheinen wie andere Bauwerke dieses Stils.

      Mit all seinem architektonischen Können hat Richard die Architektur dieser denkmalgeschützten Villa aus dem Jahr 1910 nicht nur bewahrt, sondern noch verbessert. Er betrachtet sie auch als sein Werk. Ohne seine Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen wäre sie weiter vernachlässigt worden und im Laufe der Zeit architektonisch dahingesiecht. Sie ist ein Baukunstwerk geworden, gelungener als je zuvor. Eine ästhetische Freude für ihn, ein Zuhause, das ihm alles zu bieten schien, lebenslang wollte er dort wohnen bleiben. Eine Illusion, die an einem brutalen Machtmissbrauch zerschellt ist. Der Braunkohlentagebau wird auch seine Jugendstilvilla vernichten. Wenn er sie betrachtet, mischen sich in ihm oft Wut und Schmerz. Auch jetzt wieder.

      Bald wird hier die Abrissbirne von Energetik wüten, denkt er, als er aus dem Wagen steigt. Die totale Destruktion. Denkmalschutz zählt überhaupt nicht mehr. Nichts wird davon übrig bleiben, was er hier als Architekt mitgestaltet hat. Er hängt an dem Haus und dem Grundstück, Eigentum und Heimat zugleich für ihn. Das alles hier wird er verlieren. Und dafür soll diese Bande den Höchstpreis zahlen. Er wird nicht nachgeben. Wenn er richtig taktiert, kann er beim Vertragspoker gewinnen. 950000 Euro wird er gleich wieder fordern und keinen Cent weniger. Energetik kann das locker zahlen.

      Das Licht der Nachmittagssonne zeichnet Schattenbilder der Sprossenfenster auf den Terrakottaboden in der Küche, auf den Anna ihre Einkaufstasche gestellt hat. Hastig verstaut sie drei Flaschen in dem Schrank unter der Spüle. Sie blickt aus dem Fenster, Richard ist schon fast an der Haustür. So früh hat sie ihn nicht erwartet. Puh, das war knapp. Gut, dass sie die Flaschen noch bei den Haushaltsreinigern verstecken konnte. Würde er sie sehen, würde er schimpfen. Er meint es ja gut, macht sich Sorgen. Aber sie braucht jetzt den Alkohol. Wie sonst könnte sie das alles aushalten? Ist eine andauernde Folter. Manchmal würde sie am liebsten schreien, sich ausschreien. Das ist doch kein Leben mehr. Diese verfluchte Braunkohle. Ruiniert alles. Irgendwie muss sie es ertragen. Der Alkohol hilft ihr dabei. Nein, sie wird ganz bestimmt nicht zur Trinkerin. Sie passt ja auf. Sie hat alles noch gut im Griff.

      «Hallo, Mutter», sagt Richard, kurz seine Hand auf ihre Schulter legend. Sie lächelt nervös, fährt sich durchs Haar, blickt ihn nicht an.

      «Na du. So früh, Richard?», fragt sie und bückt sich zu einer Einkaufstasche.

      «Ja. Ich war zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich musste zu viel an das Verkaufsgespräch gleich denken. Habe heute Nacht auch schlecht geschlafen.»

      «Ich auch», sagt sie, in der Einkaufstasche kramend.

      Richards Gesicht wird ernst, er macht einen Schritt nach vorn, um besser in die Tasche blicken zu können.

      «Was ist denn das da für eine Flasche?», fragt er auf einen Flaschenhals zeigefingernd, der aus Lebensmitteln herausragt.

      «Das ist weißer Traubensaft. Beste Qualität», antwortet sie mit einem überlegenen Lächeln.

      «Ach so. Ich dachte –»

      «Falsch gedacht», unterbricht sie ihn barsch. «Du brauchst mich nicht zu kontrollieren. Ich bin alt genug. Ich weiß, was ich tue.»

      «Du trinkst zu viel.»

      «Nein.»

      «Doch. Gestern Abend hast du eine ganze Flasche Rotwein getrunken.»

      «Du sollst mich nicht kontrollieren. Ich bin kein kleines Kind», sagt sie mit trotziger Stimme.

      «Ist aber nötig», erwidert er und lässt seinen Blick suchend in der Küche umherschweifen.

      «Richard, keine Bange. Ich habe alles im Griff. Wirklich.»

      «Scheint mir aber nicht so.»

      «Lass uns jetzt nicht streiten.» Anna blickt zur Küchenuhr. «Viertel nach drei. Um fünf kommt der Kerl von Energetik. Wie heißt der noch mal? Ellersen oder so.»

      «Efferen», antwortet Richard, seine Arme verschränkend.

      «Ich kann ihn nicht ausstehen. Wie fein der tut. Als wollte er nur unser Bestes. Ist aber einer der miesesten Figuren von Energetik. Versucht die Menschen hier über den Tisch zu ziehen. Ein Betrüger. Drückt den Wert der Häuser, wie er nur kann», sagt Anna grimmig.

      «Das wird ihm bei uns nicht gelingen», meint Richard. «Wenn wir schon verkaufen müssen, dann aber nur zum absoluten Höchstpreis.»

      «Genau», bestätigt Anna, überlegt kurz. «Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, dann würde man den ganzen Laden zerschlagen. Erst zwingen sie die Menschen, hier alles aufzugeben, und dann wollen sie ihnen noch nicht einmal das zahlen, was ihre Häuser wert sind. Sind eine gemeine Bande.»

      «In der Tat. Setzen rücksichtslos ihre Interessen durch. Und das mit politischer Rückendeckung. Haben eine