Nachtwanderung. Susanne Renger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Renger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847632658
Скачать книгу
Wohnung und ihre Kleidung diese Farben angenommen hatten, während die Häuser und Kleider anderer Menschen grau geblieben waren? Doch wenn man genauer hinsah, bemerkte man auch hier einen Wandel, der irgendwann nicht mehr ignoriert werden konnte. Immer mehr Räume, privat oder öffentlich, wurden bunt, und sogar die Natur leuchtete jetzt in einem deutlichen, wenn auch noch etwas blassem Grün. Dabei nahmen wie überall die Menschen die Veränderung erst dann wahr, als sie nicht mehr aufzuhalten war. Und weil sich niemand daran erinnern konnte, wann sie begonnen hatte, kannte keiner ihre Ursache. Und genau genommen interessierte sich auch niemand dafür. Denn ihr Leben war auf einmal schöner geworden. Aber falls sich jemand einmal die Zeit nahm, in jede Ecke zu schauen, konnte er sie überall entdecken: die kleinen bunten Blumen.

      Der kleine dicke Mann in seinem blauen Anzug wanderte langsam über eine Straße und betrachtete zufrieden das vollendete Werk. Seine linke Hand umklammerte den Griff eines grünen Koffers. Er hatte seine Mission erfüllt. Der Koffer war leer. Noch immer umrankte eine kleine leuchtende Blume seinen merkwürdigen Hut. Sie war die einzige, die ihm noch geblieben war. Die übrigen hatte er im ganzen Staat verteilt, wo sie ihre Wirkung unaufhaltsam entfalteten. Mit ihrer Hilfe war ihm gelungen, wovon er lange geträumt hatte. Die Menschen fanden zu ihrer alten Lebensfreude zurück, die ihnen im trostlosen Grau verloren gegangen war. Er blickte nach oben. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht und der Himmel strahlte in einem klaren Blau, das nicht schöner sein konnte. Wie alle im Land hatten auch die Großen und Mächtigen nicht verstanden, was um sie herum geschah. Und irgendwann mussten sie feststellen, dass sich die Menschen verändert hatte. Und sich zunehmend gegen sie auflehnten. Die Farben schienen ihnen Kraft zu geben. Ja, er hatte es geschafft. Nach den vielen Jahren der grauen Unterdrückung war die verhasste Regierung gestürzt und die Verantwortlichen in die Gefängnisse gesteckt worden. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Und das gerade noch rechtzeitig.“, dachte er, während er die kleinen roten Zeiger beobachtete. Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen zog er sich den Hut vom Kopf, der ihn bis hierher begleitet hatte, nahm die Blume zwischen die Finger und steckte sie in eine seiner Jackentaschen. Anschließend verschwand der kleine dicke Mann hinter der nächsten Straßenecke. Zurück auf dem dunklen Asphalt blieb eine blauer runder Hut, der einer Melone sehr ähnlich sah.

      Der Ausstieg

      Die Münze zeigte Kopf. Ich hatte verloren. Wie so oft. Immer musste ich die Drecksarbeit erledigen. Egal, ob ich mich für Kopf oder Zahl entschied. Manchmal kamen mir schon Zweifel, ob es an mir lag oder die Münze falsch spielte. Vielleicht hatte sie ja auch zwei gleiche Seiten, und meine Kumpanen zogen je nach Wahl die passende aus der Tasche. Aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein, ich hatte einfach meistens Pech. Also musste ich es tun. Und sich zu beschweren half da auch nichts, mit meinen Leuten war schließlich nicht zu Spaßen. Die machten einen am Ende noch kalt, weil man nicht gehorchte. Dieses Mal war es eine Frau mittleren Alters. Unglücklicherweise hatte sie Dinge gesehen, die nicht für ihre Augen bestimmt waren. Wir mussten sie loswerden und konnten dabei hoffen, dass sie bei der Polizei bisher nicht allzu gesprächig war. Es hatte zu geschehen. Möglichst bald. Dabei durften wir keine Zeit mehr verlieren.

      Somit fuhr ich gleich am nächsten Tag zu ihr. Mit einem kräftigen Seil in der Tasche, denn die ganze Sache musste unauffällig und möglichst lautlos über die Bühne gehen. Niemand sollte Verdacht schöpfen. Ich nahm den Bus und ging die letzten Meter zu Fuß. Die Sonne kündigte mit ihren ersten Strahlen den nahen Frühling an, nachdem sich der Winter ziemlich hartnäckig gehalten hatte. Hier und da konnte man noch seine letzten Reste erkennen, Schnee, der im Schatten nicht vollständig geschmolzen war. Mein Blick fiel auf die mit roter Farbe sorgfältig gepinselte Hausnummer. Ich hatte es gefunden. Die herrschaftliche Villa lag ziemlich einsam, umgeben von einem ansehnlichen Garten. Wäre sie nicht ein wenig heruntergekommen gewesen, hätte man meinen können, dass hier irgendein hohes Tier wohnen würde. Vorsichtig sah ich um mich, konnte dabei niemanden entdecken, zudem war kein Laut zu hören. „Perfekt.“, dachte ich und betrat mit leisen Schritten das fremde Grundstück durch das kleine Tor im Zaun. Ich durchquerte den Garten und betrachtete das Gebäude sorgfältig von allen Seiten. Die Rollläden waren hochgezogen. Über ein Fenster im Erdgeschoss konnte ich ins Innere sehen. Das Zimmer war vollgestopft mit antiken Möbeln. Mit einem einigermaßen kühlen Kopf, aber doch ein wenig verzweifelt, suchte ich dann nach einer Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Sollte ich ein Fenster einschlagen? Nein, das war viel zu laut und zog nur unnötige Zeugen an. Keine gute Idee. Es musste noch einen anderen Weg geben. Schließlich war das nicht mein erster Auftrag dieser Art. Also ging ich ein zweites Mal um das Gebäude herum, sehr viel langsamer als zuvor, um wirklich alles zu erfassen. Und endlich fand ich, wo ich mir Zutritt verschaffen konnte. Ein Fenster stand halb offen, allerdings lag es leider ziemlich weit oben. Das erschwerte die Sache erheblich. Obwohl ich noch nie der Unsportlichste gewesen war, stellte mich eine derartige Kletteraktion auf eine harte Probe. Glücklicherweise lief an einer Seite ein Rohr aus Metall für das Regenwasser hinab. Nach einer kurzen Prüfung, die darin bestand, an ihm zu rütteln, hielt ich es für kräftig genug, um mich zu tragen. Weshalb ich mich an die Arbeit machte und begann, es rauf zu klettern. Völlig verschwitzt und ein wenig entkräftet eroberte ich nach einiger Zeit das Dach. Von hier aus war das geöffnete Fenster leicht zu erreichen.

      Wenig später stand ich in einem kleinen Raum. Mein Blick wanderte über mehrere Umzugskartons und einige alte Koffer. Das Zimmer glich einer Art Rumpelkammer, in der man einfach alles abstellte, was man nicht mehr brauchte, aber auch nicht wegschmeißen wollte. Das Fenster war wohl vergessen worden, denn es war eisig kalt hier drinnen. Frierend zog ich den Reißverschluss meiner Jacke zu. Es mussten Minuten vergangen sein, in denen ich still dastand und lauschte, bevor ich mich endlich dazu zwang, zu handeln. Ja, ich musste mich beeilen. Je eher ich den Auftrag ausführte, desto besser. Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür, öffnete sie und spähte hinaus auf den Flur. Totenstille herrschte überall. Gewissenhaft fing ich nun damit an, das Haus von oben nach unten systematisch zu durchkämmen. Das oberste Stockwerk, in das ich eingestiegen war, erschien mir weniger interessant. In welches Zimmer ich auch ging, ich konnte nichts anderes entdecken, als unbedeutendes Gerümpel, das unter einer dicken Staubschicht lag. Hier war beim besten Willen kein Mensch zu finden, die Zielperson zweimal nicht. Nur nicht aufgeben, das Gebäude hatte ja schließlich mehr zu bieten. Also tastete ich mich langsam die Treppe hinunter. Allmählich wurde es wärmer. Ich zog meine Jacke aus und band sie mit den Ärmeln um meine Hüfte. Links vom Treppenhaus befanden sich drei Türen, die alle zugezogen waren, während ich auf der rechten Seite zwei weitere erkennen konnte. Ich beschloss, als erstes nach links zu gehen. Das größte der drei Zimmer war eingerichtet mit einem riesigen Doppelbett, zwei gleichen geschmackvollen Kleiderschränken, einer antiken Kommode und einem kleinen Nachtkästchen, das im Gegensatz zu den anderen Möbeln ein wenig verloren und fremd wirkte. Neugierig begutachtete ich alles, was sich meinen Augen darbot. Dabei schaute ich sogar unter das Bett. Aber nichts. Es sah hier so überaus ordentlich aufgeräumt aus. Da war wohl jemand äußerst pingelig. Eines, jedoch, passte nicht ganz in dieses Bild. Es fiel mir auf, als einer meiner Finger zufällig die Kommode berührte. Obwohl das Bett penibelst genau gemacht worden war und den Eindruck verbreitete, als wäre es eben erst frisch bezogen worden, hatte sich über die Möbel eine dünne, aber deutliche Staubschicht gelegt. Das kam mir reichlich seltsam vor. Deshalb rang ich mich dazu durch, in jede Schublade und jedes Fach einen kurzen Blick zu werfen, um sicher zu gehen. Dabei begegnete mir nichts Außergewöhnliches, nur dass alles sehr korrekt eingeräumt war. Ich schüttelte den Kopf und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Die übrigen Zimmer fertigte ich nur kurz ab, indem ich die Tür aufmachte und sofort wieder schloss, wenn es keinen Hinweis auf irgendein Lebenszeichen gab, weil in mir zunehmend ein mulmiges Gefühl wuchs. Und obwohl ich nicht wusste, warum, wirkte dieses Haus auf mich wie ein verlassenes Geisterschloss. Noch dazu fehlte jede Spur von der Bewohnerin.

      Auch im Erdgeschoss hatte ich kein Glück. Wie eine Katze streunte ich durch alle Räume, betrachtete die Antiquitäten im Wohnzimmer genauer und überlegte mir dabei, wie viel sie wert waren. Ich kam zu dem Schluss, dass es eine Menge Geld sein musste. Natürlich hatte ich davon nur wenig Ahnung. Gelangweilt ließ ich mich in einen Sessel fallen. Meine Gedanken kreisten um die Frau, die hier wohnte, und um das unheimliche Gemäuer. Irgendetwas an diesem Haus war seltsam. Und dann fiel mir ein, was es war. Unter all den