Ihren Mann und ihren Sohn hatte sie kaum wahrgenommen. Georg hatte ihr Grübeln und ihre geistige Abwesenheit bemerkt, und das schon seit dem ersten Tag, als von dem Mord berichtet worden war. Von seinem Anfangsverdacht, Kerstin hätte früher ein Verhältnis mit dem Ermordeten gehabt, war er abgekommen. Seit der Veröffentlichung des Fotos war sie nicht mehr sie selbst. Er wollte sie aber nicht drängen, ihm etwas zu erzählen. Dann würde sie total dicht machen. Das kannte er von ihr. Also ließ er sie in Ruhe und beschäftigte sich mit seinem Sohn.
Auch der bekam von der Spannung zu Haus etwas mit. Er konnte sich so schon kaum artikulieren und musste langsam sprechen, wenn man ihn verstehen sollte, aber nun schien es fast unmöglich, seinen Lauten eine Bedeutung zu entnehmen.
Kerstin und Frank begrüßten sich wie immer und sie schlüpfte sofort unter seine Bettdecke. Er zog sie langsam aus und sie schliefen miteinander, aber Frank spürte ihre Verspanntheit. Sie war nicht bei der Sache, konnte sich ihm nicht hingeben. Etwas beschäftigte sie.
„Du kanntest ihn, nicht wahr?“ Das war eher eine Feststellung als eine Frage.
„Was? Wen?“ Sie erblasste und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
„Den Ermordeten aus Frankfurt.“
„Was? Wie kommst du darauf? Woher soll ich einen Arzt aus Frankfurt kennen?“
Frank schaute sie lange an. Er sah, dass sie log. „Weil du erstens heute nicht bei der Sache bist, so, als ob dich etwas bedrückt, etwas Ernstes und weil ich zweitens im Internet herausgefunden habe, dass dieser Gerald Arnold aus Putgarten stammt, also gleich um die Ecke, und dass er in den Achtzigern in Rostock Medizin studierte.“
Kerstin war sprachlos. Wieso interessierte ihn dieser Arzt? Nur aus Neugier oder was wusste er? Sie schaute ihn misstrauisch an und überlegte, wie sie darauf reagieren sollte. Sie konnte ihr Entsetzen, ihre Angst nicht verbergen. Sie war keine gute Schauspielerin. Dann kam ihr ein Gedanke, angeregt durch Georgs Verdächtigungen.
„Okay. Ja, äh – ich kannte ihn. Äh – wir waren mal zusammen. Auch wenn es schon – äh – über 25 Jahre her ist und ich gar nicht mehr an ihn dachte. Äh – ist schon ein komisches Gefühl zu erleben, dass jemand – hm – ermordet wird, mit dem man – äh – ein Verhältnis hatte, in den man – äh - verliebt war, auch wenn wir damals – hm – wie soll ich sagen – äh – nicht im Guten auseinander gingen.“
Frank hörte ihr aufmerksam zu. Er glaubte ihr nicht. Ihr anfänglichen Abstreiten und dann dieses stockende, immer wieder durch 'äh' und 'hm' unterbrochene Reden, bestärkte ihn in der Ansicht, diese Geschichte gerade erfunden zu haben.
„Was heißt das, nicht im Guten auseinander gehen?“, bohrte er weiter.
„Na – äh – er hatte in Rostock noch eine Geliebte. Ja, das war schlimm.“ Kerstin sprach hastig. Sie bemerkte nicht, wie sie einen Zipfel der Bettdecke immer wieder mit ihren Händen verdrehte. Sie steigerte sich in diese Geschichte hinein, von der sie hoffte, all ihr Verhalten und ihre Reaktionen erklären zu können.
„Jemand – äh – jemand, den ich in Rostock kannte, machte mich darauf aufmerksam. Als ich Gerald damit konfrontierte, lachte er nur und fragte mich, was ich denn gedacht hätte. Eine Wochenendbeziehung reiche ihm nicht. Er brauchte also mich fürs Wochenende und die andere in der Woche.“ Sie machte eine Pause. Ihre Geschichte wurde immer flüssiger. „Ich habe ihm eine runtergehauen und bin gegangen. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen.“
Frank ließ es dabei bewenden. Es hatte keinen Zweck. Das war nicht die Wahrheit, jedenfalls nicht die ganze. Die wollte sie ihm nicht anvertrauen.
Von seiner Absicht, ihr von dem Gedicht zu erzählen, ließ er ab. Er brauchte zwar einen Rat, ob er sich bei der Polizei melden sollte. Aber nun, mit dem Gefühl, sie verheimliche ihm etwas, ließ er von seinem Vorhaben ab. Er spürte den Riss, den das Vertrauen zwischen ihnen bekommen hatte. Sie hatten sonst nie Geheimnisse voreinander und er wusste mit Sicherheit mehr über Kerstin, über ihre Verfassungen, ihre Träume und Sorgen, als ihr Mann. Aber nun?
Zum ersten Mal stand er zuerst auf und ging ins Bad. Er wollte, dass sie geht.
* * *
„Spreche ich mit Kerstin Runge, geborene Strübe?“ Die Stimme klang rau, wie nach einer durchzechten Nacht.
Endlich war der Tag vorbei. Kerstin war froh. Nach dem Disput mit Frank am Morgen, konnte sie sich in der Schule kaum konzentrieren. Außerdem schmerzte ihr Rücken. Darum hatte sie sich zu Hause hingelegt und war eingeschlafen. Danach fühlte sie sich besser. Sie duschte und wollte sich gerade einen Kaffee machen, als das Telefon klingelte.
„Wer sind Sie denn?“, kam von ihr die Gegenfrage.
„Bernd Retzlaff.“
„Oh.“ Damit hätte Kerstin nicht gerechnet. „Wie hast du mich gefunden?“
„Na, das war nun wirklich nicht schwer. Du bist ja die Einzige, die noch in Vitt wohnt.“
Klar, dachte sie. Er brauchte nur irgendeine Nummer von hier wählen und nach mir fragen. Alle kennen mich. „Ich habe auch schon versucht, dich zu erreichen, hatte aber nur deine Frau dran. Sie war nicht gerade gut auf dich zu sprechen.“
„Die dumme Kuh. Die würd mich doch glatt der Polizei ausliefern. – Mach die Scheißmusik aus oder willst du noch ein paar gelatscht kriegen, du blöde asiatische Schlampe!“ Kerstin war irritiert. Was war das? Sie nahm Hintergrundmusik bei Bernd wahr, die nun schlagartig verstummte. Sie klang nach etwas Besinnlichem, etwas Asiatischem.
„Sorry“, war nun Bernds Stimme wieder zu vernehmen. „Die kleine Schlampe hat immer noch nicht begriffen, wer hier der Boss ist. Aber das wird sie schon noch. Wo waren wir stehen geblieben?“
„Drehst du immer noch Filme?“, fragte Kerstin ungeachtet seiner Frage.
„Nicht mehr. Hab's am Anfang nach der Wende noch mal versucht, aber die Konkurrenz war zu groß. Nun hab ich ein paar Weiber, die für mich anschaffen.“
„Und die, die jetzt bei dir ist, ist Asiatin? Wie alt ist sie?“
„Was weiß ich. Sie gehört mir nicht wirklich. Sie wurde mir für einige Zeit überlassen und da hat sie mir zu gehorchen.“
„Ich nehme an, du rufst wegen Gerald an“, wechselte sie das Thema.
„Nur um ein Pläuschchen zu halten ist mir die Zeit zu schade. Denkst du, sein Tod hat etwas mit uns zu tun?“
„Möglich. Ich habe darüber schon mit Marion gesprochen und wir wollen uns morgen treffen und überlegen, was wir tun könnten. Kannst du auch kommen? Sie wohnt in Stralsund, aber das weißt du ja.“
„Ich weiß nicht. Da, wo ich jetzt bin, fühl ich mich sicher. Hast ja mitbekommen, nicht mal meine Alte weiß, wo ich bin.“
„Bist du feige?“, versuchte Kerstin ihn zu locken. „Du wirst nicht immer in dem Versteck bleiben können und vor allem wollen.“
Er sah ein, dass Kerstin Recht hatte. „Okay. Wann trefft ihr euch?“
„Um zehn bei Marion.“
„Gut, ich werd da sein. Bis morgen.“
Gleich danach rief sie Marion an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, musste sich aber mit dem Anrufbeantworter begnügen. Dann machte sie sich endlich einen Kaffee.
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