"Jeder von euch hat irgendjemandem schon einmal die Hand geschüttelt", hörte Jorris, "dabei könnt ihr die Hand des anderen unterschiedlich feste schütteln, also zudrücken. Wenn ihr fest zudrückt, erhöht ihr den Druck auf die Hand des anderen, wenn ihr noch fester zudrückt, wird der andere Schmerzen bekommen. Das bedeutet: Wenn ihr der Tiefsee jemandem die Hand schütteln wolltet, wäre der Druck so groß, dass eure Hand einfach zerdrückt werden würde."
Aha, dachte sich Jorris, das war mit Druck gemeint. Jetzt erinnerte er sich auch, dass ihm beim Tauchen im Schwimmbad immer das Trommelfell wehtat, wenn er tief tauchte. Vermutlich weil das Wasser umso stärker auf seine Ohren drückte, je tiefer er tauchte. Und Jorris tauchte nie tiefer als drei Meter. Wieviel stärker mussten ihm da die Ohren schmerzen, wenn er in die Tiefsee tauchen würde?
Der Filmsprecher aber hatte noch ein weiteres, sehr eindrucksvolles Beispiel für die unglaubliche Macht, die das Wasser in der Tiefsee hatte, wie Jorris gleich darauf erfuhr. "Der Druck in der Tiefsee ist so hoch, dass, würdet ihr in einem Auto hinabfahren, das Auto auf die Größe eines Tennisballs zerquetscht werden würde." Sicherlich übertrieb der Sprecher des Films, dachte sich Jorris. So schlimm konnte das mit dem Druck doch nicht sein. Oder doch? Leider lieferte der Film für diese Behauptung keine Beweisbilder. Stattdessen flüsterte Jorris‘ bester Freund Noel: "Wow, das ist ja Wahnsinn. Stell dir das mal vor."
"Ja", flüsterte Jorris zurück, "wenn wir dort hinuntertauchen würden, kämen wir in der Größe einer Murmel wieder an die Oberfläche."
"Überleg mal", flüsterte Noel weiter, "einfach so, bäm, zerquetscht."
"Pscht", ermahnte Herr Dietz, der es nicht leiden konnte, wenn jemand bei einem Film flüsterte. Beide wandten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Film zu. Jorris hörte jetzt ganz gebannt zu. Wer wusste, was die Tiefsee noch alles für spannende Geheimnisse bereithielt. Der Filmsprecher ließ Jorris nicht lange warten. "Die Tiefsee beginnt ab einer Meerestiefe von 800 Metern. Hier liegt der Bereich, den wir als "Mesopelagial" bezeichnen. In dieser Tiefe ist noch ein winziger Rest blaues Licht vorhanden, es gibt keine Pflanzen mehr."
"Keine Pflanzen mehr", dachte sich Jorris und versuchte, sich eine Welt ohne Pflanzen vorzustellen. Er dachte sich die Bäume weg, das Gras, die bunten Blumen und stellte sich vor, alles wäre von brauner Erde bedeckt. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht.
"Trotzdem gibt es immer noch Leben in diesen Regionen", fuhr der Filmsprecher fort.
Das kann doch gar nicht sein, überlegte Jorris, Lebewesen brauchen doch Licht und Sonne zum Wachsen. Und was wollten die Lebewesen denn dort unten überhaupt fressen? Da konnte doch nichts existieren.
Doch der Film zeigte jetzt Bilder von seltsamen Lebewesen, Plankton genannt. Einige sahen aus wie durchsichtige Regenwürmer, andere wie Käfer mit langen Fühlern am Kopf und mindestens zehn Beinchen, mit denen sie durchs Wasser schwammen. Andere wiederum erinnerten Jorris stark an die Garnelen in seinem Aquarium. Allerdings waren die schön farbig, in rot, orange, weiß mit schwarzen Tupfen. Dieses Plankton dagegen war durchsichtig, nur ab und zu mal gab es eins, dass ein wenig Farbe hatte, braun oder grau. Und das lebte in der Tiefsee? Ja, das tat es. "Plankton ist sehr klein, kleiner als die Spitze einer Stecknadel", erklärte der Filmsprecher.
Langsam dämmerte Jorris, dass die Tiefsee gar nicht langweilig und dunkel war, wie er bisher gedacht hatte. Der Film fuhr fort zu berichten, dass es so genannte "Tiefseegräben" gab, die Forscher überall auf der ganzen Welt gefunden hatten. Der tiefste dieser Gräben war der Marianengraben. Er war 11.034 Meter tief und 2500 Meter lang und der tiefste Punkt auf der Welt.
Wie weit sind wohl 11.034 Meter, fragte sich Jorris und stellte fest, dass er es sich nicht vorstellen konnte.
Der Filmsprecher erzählte weiter, dass niemand wusste, was genau in diesen Tiefen lebte. Einige Menschen vermuteten, dass in diesen Tiefseegräben Dinosaurier überlebt haben könnten. Zum Beispiel der der Plesiosaurus, der aussah, wie Jorris sich das Monster von Loch Ness vorstellte, oder der Mosasaurier, der Ähnlichkeit mit einem Krokodil, allerdings einem sehr sehr großen Krokodil hatte. Forscher dagegen berichteten von Vampirtintenfischen und Seefledermäusen. Lustige Namen, fand Jorris.
Viel interessanter aber fand er die Berichte über Pottwale, an denen die Abdrücke von Saugnäpfen der so genannten Riesenkalmare gefunden worden waren. Diese Riesenkalmare erreichten eine Länge von bis zu dreizehn Metern. Der Film zeigte ein eindrucksvolles Bild eines Tieres mit länglichem Körper und mindestens zehn langen Fangarmen, die mit Saugnäpfen besetzt waren.
Dreizehn Meter, überlegte Jorris, die passen gerade mal so der Länge nach in unser Klassenzimmer. In der letzten Mathematikstunde hatte die Klasse mit Hilfe eines Metermaßes den Klassenraum ausgemessen, deshalb wusste Jorris, dass der Klassenraum in der Länge dreizehn Meter maß
Ob es da unten wirklich Seeungeheuer gibt? Oder noch größere Kalmare? Was für Tiere mochten da unten noch leben, fragte sich Jorris. Ein angenehmes Gruseln überlief ihn als er daran dachte, wie es wohl wäre im Stockdunkeln plötzlich auf einen riesigen Fisch zu stoßen. Oder einen riesigen Hai. So groß, dass er Jorris mit einem Happs verschlingen konnte. Diese Haie hatte es früher gegeben, zur Zeit der Dinosaurier, das wusste Jorris ganz genau.
Zuhause
"Hallo Mama", begrüßte Jorris seine Mutter, als er zur Haustür herein kam. "Hallo du", grüßte seine Mutter zurück. "Wie war es denn heute in der Schule?" Begeistert berichtete Jorris von dem Film über die Tiefsee und was es da alles zu sehen gab. "Stell dir vor Mama, da unten ist gar kein Licht. Zuerst dachte ich ja, der Film wäre voll doof und so, ich mein, Tiefsee, klingt doch total langweilig. Aber da unten ist wirklich eine Menge los." "Vielleicht", scherzte die Mutter, "kannst du dir ja erstmal ein Bild von der Oberfläche des Meeres machen. Wir machen heute eine Bootstour rüber zur Insel. Schon vergessen?" Das hatte Jorris tatsächlich. "Stimmt, wir besuchen Oma und Opa", fiel ihm wieder ein. Zu seinen Großeltern fuhr Jorris sehr gerne. Die hatten nämlich einen Bauernhof und Murmel. Das war Opas Hütehund, mit dem er die Schafe zusammentrieb, aber wenn Jorris da war, war es sein Hund. Das hatten er und sein Opa so ausgemacht, bis Jorris endlich seinen eigenen Hund haben durfte. Bisher behaupteten seine Eltern immer, dafür sei er noch nicht alt genug. Die wussten aber auch gar nichts!
"Natürlich besuchen wir Oma und Opa", unterbrach Jorris' Mutter seine Gedanken, "mach schnell deine Hausaufgaben, dein Papa kommt heute früher von der Arbeit."
Die doofen Hausaufgaben hätte sie ruhig vergessen können. Überhaupt sollten Hausaufgaben eine Woche vor den Ferien verboten werden. Gelangweilt suchte er in seinem Ranzen die Arbeitsblätter zusammen, die er von drei verschiedenen Lehrern bekommen hatte. Für Englisch fehlte das Blatt Nummer 2, für Mathe waren es vier Arbeitsblätter, die leider alle da waren und in Deutsch hatte er zwei Blätter, von denen sich eins als das fehlende Englischblatt entpuppte. Naja, Deutsch mochte er eh am wenigsten.
Jorris machte sich an die Arbeit, gab sich aber nicht allzu große Mühe. Nach vierzig Minuten war er fertig. Gerade rechtzeitig, denn er hörte unten die Autotür seines Vaters. Wie der Wind rannte er die Treppe hinunter und begrüßte seinen Vater, der gerade die Tür herein kam. Auch er bekam einen Bericht über den Tiefsee-Film, den der Vater sich geduldig anhörte.
"Jorris", meinte der Vater, als Jorris geendet hatte, "ich gehe mich jetzt umziehen und dann wollen wir los. Das Schiff wartet nicht auf uns."
Wenige Minuten später fuhren sie mit dem Auto zum Hafen, parkten es auf dem großen Parkplatz vor dem Deich und liefen zur Anlegestelle. Hier warteten die Fähren darauf, Gäste auf die Insel zu bringen. Auf der Insel waren keine Autos erlaubt, nur Fahrräder durften gefahren werden.
Ungeduldig wartete Jorris, bis seine Mutter die Tickets gekauft hatte und sie an Bord gehen konnten. Besorgt schaute der Vater zum Himmel. "Das sieht nicht gut aus", sagte er und zeigte auf die dunklen Wolken, die aufgezogen waren, "hoffentlich bekommen wir keinen Sturm, das fehlt uns noch."
"Ach",