»Haben Sie auch jemanden hier liegen?«, fragte er etwas unbeholfen.
»Nein, nein. Ich genieße nur die ganz besondere Atmosphäre«, lautete die knappe Antwort. »Ich habe Sie vorhin am Grab von dieser Nico gesehen. Können Sie sich vorstellen, dass dort noch immer in Plastik gehüllte Briefchen, Weinflaschen und Blumensträuße abgelegt werden? Sogar einen Weihnachtsbaum habe ich schon auf dem Grab entdeckt. Freilich kein echter, nur ein kleiner aus Plastik mit Batterien, die ihn leuchten ließen. Haben Sie das Grabkreuz vom Oberförster Willi Schulz gesehen? Er gehört zu denen, wo die Todesursache ungeklärt ist. Man sagt, einige Förster seien nicht darüber hinweggekommen, nach der Abschaffung der Monarchie nicht mehr königlicher, sondern nur noch städtischer Beamter zu sein. Seinem Kreuz hat man ein Geweih verpasst. Ins Holz eingeritzt ist: „Jagd vorbei“. Das nennt man dann wohl Berliner Humor.«
Andreas lächelte gequält.
»Sind Sie auch kein geborener Berliner?«
»Nein, aber nach den vielen Jahrzehnten gefühlter.«
»Den sprichwörtlichen Berliner Humor halte ich auch für etwas gewöhnungsbedürftig«, sagte Andreas.
»Das dürfen Sie nicht so eng sehen, junger Mann. Vieles ist nicht so schroff gemeint, wie es klingt. In Wahrheit hat der Berliner viel Herz. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass man die aus der Havel gefischten Wasserleichen als „Opfer der Kälte“ bezeichnete. Das kann man ruhig im übertragenen Sinne sehen. Manchmal schrieb man auch nur „Verunglückt“ auf das Kreuz. Dabei war es offensichtlich, dass es sich um einen Lebensmüden handelte. Man hat seinen Tod damit liebevoll verschleiert. Kommen Sie mal am späten Abend hierher, dann können Sie manche noch sehen.«
Mit dieser seltsamen Aussage verschwand der ältere Herr, als hätte es ihn gar nicht gegeben.
Noch jemand anderen sah Andreas hin und wieder. Eine junge Frau mit blassem Gesicht und hellblonden Locken. Sie wirkte so ätherisch mit ihrer fahlen Haut und ihrem dünnen Kleid, dass Andreas sich nicht traute, sie anzusprechen. Meist stand sie still vor einem der Gräber wie dem des unbekannten Sohnes. Sein Stein trug die Inschrift:
„Geliebt - beweint/ Mein frühes Grab, mein frühes Grab/ drum Mutter ruf mich nicht zurück/ ich lebe noch und liebe Dich/ in diesem schönen Himmelslicht“.
Anschließend ging sie stets zu einem Kreuz der Namenlosen, wo sie lange verharrte, um sich dann beinahe abrupt davon zu entfernen. Andreas kam es vor, als liefe sie nicht, sondern schwebe. Wenn es nicht helllichter Tag gewesen wäre, hätte er geglaubt, ein Geistwesen zu sehen. Aber ließen die sich nicht nur nachts sehen? Auf dem Heimweg ging ihm das Mädchen nicht aus dem Sinn, und er nahm sich vor, den Rat des alten Mannes zu befolgen. Wer weiß, wer oder was ihm spät abends oder nachts dort begegnen würde. Wie recht er mit seiner Vermutung hatte, sollte sich alsbald zeigen.
Kapitel 2
Das Unheil nimmt seinen Lauf
Johanna war mit ihrer schlanken Figur und den goldblonden, aufgesteckten Haaren ein Hingucker. Den männlichen Gästen entging aber nicht, dass Willi, der Sohn des Hauses, ein Auge auf sie geworfen hatte, womit sie für viele tabu wurde. Einer, der sich eiskalt lächelnd darüber hinwegsetzte, war Ferdinand von Hohensee – von seinen Freunden nur Ferdi gerufen –, ein arroganter, von sich überzeugter Jüngling aus reichem Hause, der glaubte, die gesamte Frauenwelt müsse ihm zu Füßen liegen.
Johanna mochte den Schönling nicht. Trotzdem bediente sie ihn freundlich und zuvorkommend. Auch entging ihr nicht, dass er sie mit den Augen verfolgte und es stets so einrichtete, in ihrem Revier einen Tisch zu belegen. Aber für sie war er einer, den sie nicht einmal erhört hätte, wenn er der einzige Mann auf der Welt gewesen wäre. Und trotz aller Freundlichkeit strahlte sie das auch aus. Ein Umstand, der Ferdi noch mehr anstachelte.
»Na, Frolleinchen, wo gehen wir denn heute noch hin nach Feierabend?«, fragte er sie ungeniert.
»Ich weiß nicht, was Sie noch vorhaben. Ich meinerseits werde die müden Füße hochlegen und früh schlafen gehen.«
»Schlafen ist eine gute Idee, aber nicht allein. Da versäumt man so viel.«
Ferdis Freunde grölten.
»Schlafen ist ein wenig wie Sterben. Das kann man nur allein.«
»Sieh an, das Servierfrollein ist gebildet. Wer hätte das gedacht? Sie hat gelesen, dass der Schlaf als kleiner Bruder des Todes bezeichnet wird. Na, vor dem Schlafen gibt es noch einiges andere, was man tun kann, und das geht allein ungleich schlechter.«
Wieder grölten Ferdis Freunde, und Johannas Gesicht überzog eine feine Röte.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich hole dann mal Ihre Bestellung, bevor der Schaum vom Bier ganz verschwunden ist.«
An diesem Abend zechten Ferdinand und seine Freunde noch ausgiebig, und zu später Stunde machte sich ein gefährliches Glitzern in seinen Augen bemerkbar. Johanna war heilfroh, als die unliebsame Gesellschaft endlich von dannen zog. Um zu ihrem Zimmer zu gelangen, musste sie später etwa hundert Meter zurücklegen, denn es befand sich in einem Wohnhaus, das zu der Gastronomieanlage gehörte. Der Weg war nicht besonders gut ausgeleuchtet, sodass Johanna stets eine leichte Gänsehaut befiel. Zu allem Unglück konnte sie Willi diesmal nicht begleiten, weil es noch geschäftliche Dinge mit seinen Eltern zu bereden gab.
Sie hatte fast die Haustür erreicht, als Ferdinand aus seinem Versteck hervorkam und sie mit der Hand vor dem Mund am Schreien hinderte. Grob zerrte er sie in ein Gebüsch, um anschließend am Ufer wie ein wildes Tier über sie herzufallen. Sein angetrunkener Zustand enthemmte ihn völlig, und Johannas Qual bereitete ihm zusätzliche Lust. Als er endlich von ihr abließ, blieb Johanna weinend im Sand liegen. Sie fühlte sich beschmutzt und ekelte sich vor sich selbst.
Irgendwie musste sie ins Haus gelangt sein und hatte sich nach dem Entkleiden endlos lange über der Waschschüssel gewaschen. Den Geruch seiner Geilheit und den schalen Geschmack in ihrem Mund konnte sie nicht entfernen. Irgendwann erlöste sie ein gnädiger Schlaf.
Am nächsten Morgen ließ sie sich nichts anmerken, vor allem vor Willi nicht. Doch es schien, als kenne er sie inzwischen so gut, um sogleich zu bemerken, dass sie etwas bedrückte. Johanna gab vor, Kopfschmerzen zu haben und schluckte brav eine Veronal-Tablette, die Willi ihr verabreichte.
Bald wurde ihr immer öfter übel, und sie musste sich morgens übergeben. Als ihre Regel ausblieb, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Ferdinand hatte sie geschwängert. Wenn er im Lokal auftauchte, grinste er sie frech an und tat, als sei nichts gewesen. Und Johanna spielte mit. Aus Scham und Verzweiflung, aber in ihr wuchs der Hass unaufhaltsam. In ihren freien Stunden unternahm sie einsame Spaziergänge im Wald und entdeckte dabei den sogenannten Schandacker. Sie konnte auf einmal gut nachfühlen, was Frauen veranlassen konnte, ihrem jungen Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen. Wenn sie völlig in sich gekehrt von dort zurückkam, konnten sie nur Willis Fröhlichkeit und seine liebevolle Art etwas aufheitern. Doch das war stets nur vorübergehend. Ferdinand, der Strolch hatte mit einem Schlag ihre Zukunft zerstört, wurde ihr bewusst. Johanna war zu aufrichtig, um auch nur den Gedanken zuzulassen, Willi die Frucht der Schande unterzujubeln. Das hatte er einfach nicht verdient, und sie hätte ihm nie wieder tief in die Augen sehen können. Es gab nur einen Ausweg: den Freitod.
Wann ihr der Gedanke gekommen war, stattdessen Ferdinand büßen zu lassen, hätte sie später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen können. Dass sie damit nur noch ihre Lage verschlimmern würde, ließ sie gedanklich erst gar nicht zu. Sie war derart von Rache und Hass getrieben, dass sie nur noch auf eine passende Gelegenheit wartete.
Die kam, als etwa zwei Wochen später Ferdinand mit seinen Kumpanen erneut ausgiebig zechte. Johanna befürchtete, er würde in seinem Zustand irgendwann eine unbedachte Äußerung machen, um sie endgültig bloßzustellen. Hatte er doch den gesamten Abend schon sein dreckiges Grinsen aufgesetzt