Tempus Z. Jo Caminos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jo Caminos
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738072877
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gewesen, als sie sich nach all den Jahren wieder gegenübergestanden hatten. Er hatte sie schlichtweg nicht erkannt. Vor ihm stand eine zierliche Person, die gut und gerne einem Horror-Film hätte entsprungen sein können: Von zu vielen Zigaretten bräunlich verfärbte Zähne, eine unreine, fahle Gesichtshaut. Dazu schulterlange Haare, die eher zu einem Hippie oder einem Teenager gepasst hätten. Vor allem ihr Untergewicht hatte ihn erschreckt. Charlotte wirkte wie eine Magersüchtige, was sie aber nach eigenem Bekunden allerdings nicht war. Krebs war ihre lapidare Reaktion auf seinen offensichtlich entsetzten Blick gewesen. „Das haut jeden aus den Schuhen.“

      Roland ahnte eher, als dass er es wissen konnte, dass es mit der Ehe von Charlotte und Sam nicht gerade zum Besten stand. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, hätte er sowieso niemals damit gerechnet, dass die beiden es fast dreißig Jahre miteinander aushalten würden. Charlotte verhielt sich sehr schmallippig, wenn es um ihre Familie ging. Sam war im Manöver, nun ja, und die Kinder sind schon lange außer Haus. Der eine ist im Knast, der andere bei den Barmherzigen Schwestern - und der andere hängt irgendwo bekifft bei einer Prostituierten ab ... Ähnlich zynisch hatte sie am Lagerfeuer ein kurzes Resümee ihrer Ehe nebst Familienentwicklung von sich gegeben. Sonja hatte dabei herzhaft gelacht und Charlotte auf die schmalen Schultern geklopft, dass Roland glaubte, sie hätte Charlotte ein paar Rippen gebrochen. Nein, gestand sich Roland ein. Charlottes Verbalfäkalien und ihr beißender Zynismus waren nie seine Sache gewesen, vielleicht früher einmal, als sie sehr viel jünger waren. Es musste eine Ewigkeit her sein.

      Aber an ihren Äußerungen war mehr dran, das wusste Roland. Charlotte hatte kurz vor der Abfahrt heute Morgen angedeutet, dass sie ebenfalls nach Deutschland zurückkehren würde. Nach all den Jahren, in denen sie keinen oder nur noch sporadischen Kontakt zu ihrer Familie gehabt hatte. Es würde, so hatte Charlotte angedeutet, für sie den endgültigen Abschied von den Staaten bedeuten, und auch von Sam. Ihnen war klar gewesen, was für ein einschneidender Schritt dies für Charlotte bedeutete, immerhin hatte die adlige Charlotte von Hohefeldt damals mit ihrer Familie gebrochen, um ihren geliebten Amerikaner heiraten zu können, den sie in ihrer Zeit an der Frankfurter Goethe-Uni kennen- und lieben gelernt hatte. Peter oder Sonja - Roland erinnerte sich nicht mehr so genau daran - hatte dann gefragt, ob es nur ein Versöhnungsbesuch bei ihrer Mutter und ihrer Schwester wäre, doch Charlotte hatte nicht weiter darauf eingehen wollen. „Ich bin fertig mit Sam“, war alles, was sie gesagt hatte.

      Roland schüttelte den Kopf und drängte die Gedanken zurück, die ihm Reminiszenzen seines eigenen Lebens zurückbringen wollten. Immerhin hatte er nur zwei Ehen in den Sand gesetzt, weil er seinen gottverdammten Schwanz nicht unter Kontrolle hatte halten können. Sibylle war weg, die Kinder auch - und er konnte es ihnen nicht verdenken. Wenigstens war er finanziell aus dem Schneider. Sibylle hatte noch nicht einmal Geld gewollt, nicht, nachdem sie ihn mit der billigen Nutte von der Kaiserstraße auf dem Sofa erwischt hatte. Ekel war alles, was ihr Gesichtsausdruck gezeigt hatte. Ekel, den ihn seine Kinder noch immer spüren ließen.

      „Hier stimmt etwas nicht“, riss ihn Charlottes Stimme aus den trüben Gedanken. Das Wohnmobil hatte den Ortseingang von Billings erreicht. Roland ließ den Camper ausrollen und hielt am Straßenrand an.

      „Ist was?“, fragte Sonja, die wohl kurz eingenickt war, doch jetzt wieder hellwach schien.

      „Sieht ziemlich verlassen aus, was?“, murmelte Peter, der herzhaft in ein Schinkensandwich biss und genüsslich vor sich hin kaute.

      Roland warf Charlotte einen schnellen Blick zu. „Billings ist bestimmt nicht der Nabel der Welt, aber ...“ Er stockte und wies dann durch die Frontscheibe zu einigen verlassenen Autos, die offensichtlich einfach auf der Straße abgestellt worden waren, als hätten die Fahrer vor irgendetwas die Flucht ergriffen. Einige der Wagentüren standen offen. „Neun Uhr morgens, keine Passanten, keine Busse, nichts ...“

      „Fahr langsam im Schritttempo weiter“, sagte Charlotte leise. Das, was sie da draußen sah, gefiel ihr nicht. Ein ganz komisches Gefühl war ihr in den Nacken gekrochen. Sie fröstelte. „Billings besteht im Grunde genommen nur aus der Main Street, einigen Läden und dann den Crescents mit den neuen Apartments. Viele Pendler, die in Baxter´s Creek arbeiten, wohnen hier in Billings, weil die Apartments damals günstig zu haben waren. Und die fünfzig Meilen bis Baxter sind über die neue Schnellstraße nur ein Katzensprung ... Fahr einfach die Main Street entlang, und ...“

      „Sollten wir nicht mal aussteigen und uns umsehen?“, unterbrach sie Peter. „Dass man die Autos einfach so stehen gelassen hat, ist wirklich komisch. Vielleicht finden wir doch jemand, den wir ...“

      „Hört doch auf, hört auf ...!“, stieß Sonja erbost hervor. „Mein Gott, leidet ihr unter Paranoia oder was? Das ist einfach nur ein verschlafenes Nest im nirgendwo. Hört mit diesen Gruselgeschichten auf, und ...“

      „Halt die Klappe! Wer lässt sein Auto denn mit offener Tür so einfach auf der Straße stehen, kreuz und quer geparkt ...?“, fuhr ihr Roland in die Parade. Er legte den Zeigefinger an die Lippen und ließ die Seitenscheibe herunterfahren. Alle schwiegen, bis Charlotte plötzlich nickte.

      „Sirenen“, sagte sie. „Irgendwo in der Ferne.“

      Roland nickte. Auch Peter und Sonja hörten es mittlerweile.

      „Vielleicht gab es einen Unfall auf der Militärbasis, wo dein Mann arbeitet ...“, setzte Sonja an, doch Charlotte winkte ab. „Die Sirenen kommen nicht aus einer Richtung, achtet mal darauf. Das ist das ganze Umland. Wenn hier etwas passiert ist, muss es eine größere Sache sein.“

      Roland wartete einen Moment, dann öffnete er die Tür, erhob sich vom Fahrersitz und stieg aus. Als er draußen vor dem Camper stand, drehte er sich langsam um die eigene Achse, blieb dann stehen und sah zu den anderen, die ebenfalls ausgestiegen waren. Er nickte. „Das Sirenengeheul kommt von überall her.“

      Sonja wirkte verängstigt, was bei ihr nicht oft der Fall war. Sie wandte sich an Charlotte. „Gibt es hier Chemiewerke oder so was? Sprengstoff, der hochgegangen sein könnte?“

      Charlotte schenkte Sonja einen nachdenklichen Blick: „Hier gibt es nur Whitehawk Air Force Base, wo Sam stationiert ist. Und der Stützpunkt liegt auch nicht gerade hier um die Ecke. Das sind schon noch ein paar Meilen bis dorthin. Keine Chemieunternehmen, keine Sprengstofffabriken, nur Farmen, Weideland und einige neue Ökoplantagen, wo man Gemüse unter Treibhausbedingungen anbaut. Wir befinden uns hier mehr oder weniger im Niemandsland zwischen Kansas City und Columbia.

      „Und wenn es auf der Air Force Base einen Zwischenfall gegeben hat? Vielleicht sind dort auch Atomraketen stationiert?“, fragte Sonja, die nervös am rechten Daumennagel kaute.

      Charlotte verdrehte die Augen. „Siehst du irgendwo einen Atompilz, Sunny?“

      „Nenn mich nicht Sunny!“, wehrte sich Sonja. Das mochte sie überhaupt nicht. „Aber wie ist das nun mit der Air Force Base? Was machen die denn da - du hast doch irgendwann einmal gesagt, dass es ein Riesenstützpunkt wäre?“

       Roland und Peter verdrehten die Augen, und auch Charlotte kämpfte mit sich, um Sonja nicht einfach anzubrüllen. Am liebsten hätte sie ihr eine runtergehauen. So viel Blödheit war wirklich nur schwer zu ertragen. Sonja konnte unglaublich nerven. Ja, darin war sie wirklich gut. Wenigstens etwas, das sie beherrschte.

      Charlotte atmete kräftig durch. Sie zuckte kurz die Achseln. „Um so was habe ich mich nie gekümmert, wozu auch? Der ganze Militärscheiß hat mich nie interessiert, und abgesehen davon, durfte Sam darüber auch nicht reden. Was dachtest du denn, dass er mir etwa Rapport erstattet? Schätzchen! Sam doch nicht!“

      Nichts hat Sonja gedacht, fuhr es Peter durch den Kopf. Wie meistens. Sie war und blieb ein naives Plappermaul, das noch nie im Leben richtige Probleme hatte. Ein unhübsches Partygirl, das mittlerweile in die Jahre gekommen war, mehr war sie nicht - nun, vermutlich musste es auch so etwas geben. Sie hatte immerhin Geld - und davon nicht zu wenig.

      „Wir fahren weiter“, sagte Roland bestimmt. Er zog den Kragen seiner Jacke etwas höher, als ein eisiger Wind durch die Straße fegte. Die anderen nickten und wollten