Hier unten ist es nicht weniger schön. Palmen blicken mit ihren Wuschelköpfen über einer vor dem Schloss aufragenden Düne hervor, dazu farnartige Bäume mit weit ausladenden Ästen. Und wenn ich daran denke, dass sich irgendwo in dem Wald, der sich den Berg hochzieht, noch dieser seltsame Riesenvogel verbirgt; Gymnopterus soll er heißen, ein Riesenvogel mit einer Spannweite von ganzen sechs Meter! Und dass zu allem Überfluss auch noch ein echter Lord auf der Insel spukt, dann laufen mir Schauer über den Rücken. Warum hat man gerade mich ausgewählt, mich, Julian Seebenstein?
Das ist schon ein Wunder, denn die Rettung der Welt ist mir doch bis vor einigen Tagen noch völlig gleichgültig gewesen. Auch jetzt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Die Welt ist schön, warum muss man sie da nach retten? Natürlich gibt es ein paar Probleme, das weiß ich schon, ich bin doch nicht naiv, aber Probleme hat es doch immer gegeben.
Na ja, dass alles werde ich bald erfahren, einem Schriftführer kann und darf nichts entgehen.
An Land werden wir auf mehreren kleinen Booten gebracht, weil der Dampfer, den der Lord gechartert hat, an dieser Stelle der Insel nicht anlegen kann. Das Wasser sei hier einfach zu seicht. Aus der Entfernung hab ich mich über die vielen Kamine auf dem Dach des Schlosses gewundert. Seltsam, was braucht der Lord in diesem warmen Klima so viele Kamine? Jetzt sind wir am Strand, und die Fassade wird von der Düne verdeckt, die das Anwesen vermutlich vor Stürmen und großen Brechern schützt. In kurzer Zeit hat sich der Himmel mit tief hängenden Wolken bedeckt. Erstaunlich schnell hat sich dieser Wechsel ereignet, das Wetter soll hier launisch und geradezu unberechenbar sein. Schon ist der Horizont in unserem Rücken in weiße Nebel gehüllt, die wie Schwaden das Meer bedecken. Ich weiß gar nicht, wo ich überall hinblicken soll.
Die letzten Meter müssen wir die Schuhe ausziehen, am Bug des Schlauchbootes einen halben Meter ins Wasser steigen, wobei wir unsere gestreiften Kittel hochziehen, Kimonos, wie wir sie nennen sollen. Bei allem Luxus, mit dem der Lord uns hier angeblich verwöhnen wird, müssen wir doch auf eine Anlegestelle verzichten. Mir macht das nichts aus, aber einige der älteren Herren rümpfen die Nase und eine junge Dame – sie sieht wie eine Chinesin aus – hält nicht mit lautem Protest zurück. Das verstehe ich nicht. Wenn man aus Zucker ist, sollte man besser keine Expedition unternehmen!
Kaum sicher am Land eingetroffen, steigen alle die Düne hoch, um sich in Richtung Schloss aufzumachen. Ich habe mich abgesondert. Es gefällt mir, hier am Strand noch etwas auszuharren und einen letzten Blick zurück auf das Meer zu werfen, das allmählich unter weißen Nebelbänken verschwindet. Auch nachdem die anderen hinter der Düne verschwinden, bin ich durchaus nicht allein. Seeschwalben schießen über die Gischt der Wellen und manchmal sausen sie so dicht an mir vorbei, als wollten sie mir gleich zu Anfang zeigen, wer hier das Sagen hat. Dazu das unaufhörliche Schnalzen und Rollen des Meeres. Die Natur ist hier ganz mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich schießt der Wind mit einer heftigen Brise vom Meer heran und fährt in die Köpfe der Palmen jenseits der Düne, die ich von hier aus noch eben sehen kann.
Wie ich mich gleich in diese stürmische Einsamkeit verliebe! Wozu braucht die Natur überhaupt den Menschen? Eine Insel ist sich selbst doch völlig genug. Wind und Wellen sind unablässig miteinander beschäftigt, unterhalten sich in ihrer eigenen Sprache. Im Grunde bin ich ein Eindringling und alle anderen Besucher sind es genauso. Bis vor wenigen Jahrzehnten hat es hier vermutlich noch keine Menschen gegeben. Ach nein, das kann nicht ganz stimmen, auf dem Schiffe haben sie gesagt, hier seien vor langer Zeit einmal Meuterer gestrandet und hätten auf der Insel ein kurzes Zwischenspiel gegeben. Jetzt hat der englische Lord sich hier eingerichtet. Nehmen wir einmal an, dass die Weltrettung ihm nicht gelingt und dass er die Insel daraufhin wieder verlässt, dann wird Merson Island abermals mit sich alleine sein. Wind und Wellen werden nur miteinander sprechen wie schon seit Jahrmillionen.
Der Gedanke belebt mich, gefällt mir, erwärmt mich von innen. Manchmal bin ich mir ja selbst nicht geheuer. Wenn ich es mir recht überlege, ist es doch einigermaßen seltsam, dass ich die Menschen abschaffen möchte, mich eingeschlossen. Oder nein, abschaffen möchte ich nur unsere sichtbaren Körper, auf keinen Fall den unsichtbaren Geist, der in hellem Bewusstsein über den Wassern schwebt. Genau, ein körperloser Geist möchte ich sein. Am liebsten würde ich in einer ganz sich selbst überlassenen Natur als unsichtbares Wesen deren Geheimnisse belauschen. Einfach so als ein reines Bewusstsein existieren ohne alle sichtbare Spur, ohne alles Tun, nur als beobachtendes Ich existieren.
Ich weiß schon, dass klingt reichlich phantastisch. Besser, ich behalte derartige Gedanken für mich. Die anderen würden darüber nur lachen - wie über alles, das irgendwie fremd erscheint.
Aber ich komme ja nicht einmal dazu, mich mit mir selbst zu unterhalten. Wo man auch ist, man wird doch immer gestört. Einer der übrigen Gäste, älteres Semester, wie mir ein knapper Seitenblick zeigt, hat sich gleichfalls vom Pulk abgesondert und ist im Begriff, sich mir zu nähern. Er zieht das rechte Bein beim Gehen etwas nach. Haben sie etwa auch Mephisto auf die Insel geladen? Der schreckt jedenfalls nie davor zurück, sich seinen Mitmenschen ungefragt aufzudrängen. Vielleicht meint er, dass junge Leute wie ich für die Unterhaltung alter Männer gerade gut genug sind.
Ach, warum ich nur wieder so boshaft und abweisend bin? Der Mensch ist von Natur ein soziales Wesen. Das hat uns Berger, unser Prof für Philosophie, noch vor einem Jahr in der Schule eingebläut. Ist sicher richtig, aber deswegen hat doch nicht jeder das Recht, dem anderen seine Gegenwart aufzudrängen. Wenn ich hinter den anderen zurückblieb, dann lässt sich doch daraus erkennen, dass ich die ersten Eindrücke ganz allein genießen möchte.
Mich einfach umzudrehen und in die andere Richtung auszuweichen, wäre allerdings der Gipfel der Unhöflichkeit, also gebe ich vor, die Annäherung nicht zu bemerken. Ich tue so, als wäre ich intensiv damit beschäftigt, die Wellen und den Flug der Seeschwalben zu studieren.
Andererseits wäre es dumm, wenn ich mich gerade hier, in dieser erlauchten Gesellschaft, auf mich selbst zurückziehen würde. Vielleicht ist das eines von den Genies, die der Lord hier versammelt hat. Möglich, dass der Mann mich sprachlos macht, sobald er die ersten Worte sagt. Vielleicht komme ich mir dann wie ein dummer Junge vor. Hier steht ja die reine Intelligenz auf dem Programm, der konzentrierte Geist sozusagen. Ganz gewiss werde ich kläglich versagen. Vielleicht ist der Mann bereits informiert, dass ich hier nur die Rolle einer Hilfskraft spiele, dass ich nichts weiter als ein zufällig ausgewählter Schreiberling bin.
Nicht weglaufen!, sagt die Stimme in meinem Rücken. Das hat hier überhaupt keinen Sinn. Auf dieser Insel sind wir wie in einen Käfig gesperrt. Jeder wird hier mit jedem auskommen müssen.
Ich bin überrascht und spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Kann der Mann etwa Gedanken lesen? Ein Glück, dass mir in diesem Augenblick eine Bö feinen Sprühregen ins Gesicht schlägt. Ich schütze mich mit der Hand gegen den Angriff und wende mich dann erst dem Fremden zu.
Eine merkwürdige Erscheinung, zumal der Mann, auf halber Höhe der Düne stehend, sich in diesem Moment gewissermaßen mit dem Schloss verbündet. Ich sehe nämlich nicht nur seinen Kopf, sondern über dem Scheitel der Düne knapp neben seinem Gesicht mit den vom Wind aufgewühlten Haaren auch noch eine rote Fahne, den Union Jack, während der dazugehörige Mast und das Herrenhaus noch verdeckt sind. Irgendwie reizt mich die Kombination zum Lachen.
Der Mann bemerkt mein Lächeln. Es verblüfft mich, dass er sogar dessen Grund richtig versteht.
Die rote Fahne wird immer zu Ehren eintreffender Gäste gehisst. Alles hier gehört dem Lord. Das Schloss und die ganze Insel sind sein Privatbesitz. Aber das ist Dir sicher bekannt.
Er duzt mich. Im ersten Augenblick bin ich darüber empört. Zweifellos ist das eine Anspielung auf meine Jugend – ich bin ja nur ein frisch entlassener Pennäler - und die Stellung, in der ich hier beschäftigt sein werde, ist lächerlich gering. Aber hat er deswegen das Recht, mich zu duzen?
Der Mann beobachtet mich, und wieder spüre ich das Blut in meinem Kopf, irgendwie fürchte ich, er könnte Gedanken lesen.
Doch er fährt mit gleichmütiger Stimme fort.
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