Erziehung ist Krieg. O. Stifter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: O. Stifter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783738081817
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nach der guten alten Zeit, in der gemacht wurde, was die Obrigkeit verlangt hat. Auch wenn der Kleine oft streitet (brauchte man dafür nicht früher einmal zwei Personen?) sind Sie aus ihrer Elternverantwortung entbunden und Ihr Kind bekommt ein Rezept. Dachten Sie, die Wutausbrüche Ihres Kindes wären der ersten, zweiten oder dritten alterstypischen Trotzphase zuzuschreiben? Früher vielleicht. Heute wissen Sie, dass der Dickkopf eine ernstzunehmende psychiatrische Erkrankung hat. Geht bei Ihrem Kind jedes Spielzeug zu Bruch und lügt es oft? Ganz klarer Hinweis auf eine Störung des Sozialverhaltens. Waren Sie als Kind fasziniert von brennenden Streichhölzern und haben Sie gerne ein Lagerfeuer entfacht? Seien Sie froh über die Gnade der frühen Geburt. Heute wären Sie ein Fall für den Psychiater. Der Gesetzgeber bestraft keine Kinder unter 14 Jahren, weil sie noch nicht strafmündig sind. Dieses Nachsehen kennt der Arzt nicht. Er veranlasst schon einmal die mehrwöchige stationäre Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wegen häufigem Stehlen. In einem Versteck die erste Zigarette rauchen, anstatt in die Schule zu gehen? Gott bewahre! Hier liegt eine Krankheit vor, die es seltsamerweise vor ein paar Jahrzehnten noch gar nicht gab. Die Erfolgsstory der Störungen des Sozialverhaltens begründet sich also auf der Alltäglichkeit der Krankheitssymptome. Zwar wird betont, dass die Ausprägung der Symptome über das normale Maß an oppositionellem Verhalten hinausgehen muss, aber niemand erklärt, wo dieses normale Maß beginnt und wo es endet. Ob eine Krankheit vorliegt oder nicht, wird also von Eltern, die überfordert sind, und von Ärzten, die an der Krankheit verdienen, festgelegt. Und es müssen bei weitem nicht alle beschriebenen Symptome vom künftigen Patienten gezeigt werden. Es genügt schon, wenn ein Merkmal besonders ausgeprägt auftritt. Der eingangs beschriebene Wutanfall von Yannick mit eingeworfenem Flachbildschirm reicht bei geschicktem Vorgehen der Eltern bereits für einen Kurzurlaub in der Psychiatrie aus. Bloß nichts bagatellisieren nach dem Motto: „Gab halt Stress, war mal wieder laut.“ Gehen Sie stattdessen professionell mit dem Wutanfall Ihres Bengels um. Rufen Sie die Polizei und den Notarzt und verwenden Sie dabei so oft wie möglich die Begriffe Impulskontrollverlust sowie Fremd- und Selbstgefährdung. Das genügt. Sie sind Ihren Quälgeist für die nächsten Wochen los, das Mitgefühl Ihrer Nachbarn ist Ihnen sicher und keiner kommt auf die Idee, dass Ihr Kind nicht krank sondern nur verzogen ist. Und anstatt sich durch öde Erziehungsratgeber zu quälen, dürfen Sie Ihr neuerdings krankes Kind mit der Diagnose Störungen des Sozialverhaltens ganz einfach mit Neuroleptika vollpumpen. Jetzt denken Sie vielleicht, schade, so eine Diagnose wäre toll, auf jeden Fall schmeichelhafter als die Einsicht, in der Erziehung gepfuscht zu haben. Leider ist Ihr Rotzlöffel nur zuhause frech. In der Schule, bei Freunden und im Verein ist er ein echter Musterknabe mit vollendeten Manieren. Für diese Fälle gibt es die Untergruppe F91.0: auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens. Oder wie wäre es mit der kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen gemäß F92, der so genannten Vollbildstörung. Der Kleine zertritt wütend seine Sandburg und ist darüber anschließend irgendwie sehr traurig. Und wenn selbst das nicht auf Ihren Nachwuchs passen sollte, dann gibt es ja immer noch F91.8 und F91.9: die sonstige Störung des Sozialverhaltens und die nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens. Also da dürfte doch wirklich für jeden Geschmack etwas dabei sein. Böse Zungen behaupten ja bereits, die Diagnose Störung des Sozialverhaltens käme schon automatisch mit dem Parkschein aus dem Automaten vor der Psychiatrie. Machen Sie sich also keine Sorgen, Ihr Kind könnte gesund sein.

       Indigo und Co.:

      Nun haben Sie ein paar ganz brauchbare Methoden kennengelernt, Ihr Kind als derart krank darzustellen, dass niemand einen prüfenden Blick auf ihre Erziehung wirft. Und dies bringt Sie einen entscheidenden Schritt weiter, das entspannte Leben zu führen, welches Sie vor der Geburt Ihres Kindes genießen durften. Aber vielleicht sind Ihnen die vorgestellten Störungen nicht en vogue genug? Oder Sie halten es für ratsam, aufgrund Ihrer eigenen psychischen Verfassung einen großen Bogen um Ärzte zu machen? Dann darf ich Ihnen zum Abschluss noch ein besonderes Bonbon vorstellen, eine esoterische Tarnkappe für eine misslungene Erziehung aus der Ecke mit den Klangschalen und den Räucherstäbchen. Es handelt sich dabei um eine Auffälligkeit, mit der Sie auf jedem Wiedergeburtsworkshop punkten: dem Indigokind. Das Indigokind kann kurz und bündig als verstrahlter Versuch gesehen werden, die eigenen verzogenen Gören als Vorboten einer neuen Weltordnung und als Ankündigung einer höheren Macht durchzuschmuggeln. Seit der Blütezeit der New Age Bewegung werden angeblich immer mehr Kinder mit indigofarbener Aura geboren. Die Aura ist bekannterweise eine feinstoffliche Hülle, die den Menschen umgibt und nur von wenigen selbsternannten Sehern wahrgenommen werden kann. Nicht zu verwechseln ist die Aura übrigens mit jener feinstofflichen Hülle, die viele Mitmenschen umgibt und als Geruch nach Schweiß, Alkohol und kaltem Rauch wahrgenommen werden kann. Diese feinstoffliche Hülle nennt man nicht Aura, sondern Aroma. Mittlerweile soll jedes neugeborene Kind mit einer indigofarbenen Aura auf die Welt kommen, was laut den Anhängern dieser These auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft einer höheren, kosmischen Macht hinweist. Es kann aber auch nur auf einen besonders desolaten Zustand der heutigen Erziehung hinweisen.

      Indigo ist ein tiefblauer Farbstoff, fast schon ins Violette übergehend und nicht unähnlich der Farbe eines Hämatoms am Auge, kurz nachdem man im Vollrausch gegen den Türrahmen gerannt ist. Und wahrscheinlich genau bei einer solchen Kollision mit dem Türrahmen ist auch die Idee mit den Indigokindern entstanden. Bemerkenswert an der Aura dieser neuen Superkinder ist, dass sie mit Indigo zufälligerweise eine Farbe hat, wie man sie auch in den Engelskarten und den wehenden Tüchern der ausdruckstanzenden Eltern findet. Auch klingt Indigo in der Szene irgendwie mystisch und nicht so unsexy wie beispielsweise der Farbstoff Bismarckbraun. Indigos sind die Königskinder in der Krabbelgruppe, was natürlich auch eine schmeichelhafte Sichtweise für deren Eltern darstellt. Diese Kinder scheinen zu wissen, dass sie die Vorboten einer höheren Macht sind und sie können über die weltlichen Alltagsprobleme ihrer bürgerlichen Mitmenschen nur milde lächeln. Als Hochwohlgeborene ignorieren sie natürlich alle gewöhnlichen Vorschriften und Regeln. Weil sie sich weigern, ein Rädchen im Schulsystem und der von spießbürgerlichen Vereinen diktierten Freizeitgestaltung zu sein, werden sie von uneingeweihten Prolls gerne als Störenfriede und Außenseiter angesehen, die am Leistungsprinzip scheitern, früh von der Schule fliegen und einen gewissen Hang zu bewusstseinserweiternden Substanzen haben. Ohne das Geheimwissen um deren Erhabenheit könnte man Indigokinder deshalb fälschlicherweise mit ADHS-Patienten verwechseln. Dabei wirken Indigokinder durch die esoterische Brille betrachtet überhaupt nicht wie zappelige Krawallbrüder, sie hinterfragen nur eben bestehende und längst überholte Sichtweisen. Wenn man es sich nur oft genug einredet, erkennt man deshalb bei Indigokindern eine enorme Tiefe der Seele, so als spreche man mit einem Erwachsenen, der schon alles gesehen und erlebt hat. Dies wiederum ist kein Wunder, wenn der Kleine mit 12 Jahren schon seinen dritten Entzug hinter sich hat.

      Jetzt sollten Sie sich als gestresste Eltern von gewöhnlichen Kinderzimmerterroristen nicht von dem Hokuspokus um die Vorboten einer neuen Weltordnung abschrecken lassen. Stattdessen dürfen Sie die Vorteile sehen, die Ihnen durch die offene Tempeltür der Indigobewegung geboten werden. Ähnlich wie bei der Störung des Sozialverhaltens, dem Asperger Syndrom und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sind nämlich die Merkmale für das Indigokind so allgemein gehalten, dass sie quasi zu jeder kleinen Nervbacke passen. Indigokinder benehmen sich kurz auf den Punkt gebracht wie Kids, die nicht erzogen wurden. Sie kennen keine Regeln und ja, sie verhalten sich wie Paschas. Klar denken sie, dass ihnen die Sonne aus dem Hintern scheint, ihre Eltern haben ihnen schließlich noch nie Grenzen aufgezeigt. Die Gören sind rotzfrech, halten sich für etwas Besonderes und machen nicht, was man ihnen sagt. Während sie sich einreden, sie hätten als einzige die Ahnung von der Welt, durchlaufen sie die drei überflüssigsten Jahre ihres Lebens: die fünfte Klasse. Und die höhere Macht, auf deren Ankunft sie hinweisen, ist höchstwahrscheinlich der Jugendrichter.

      Wenn Ihr Nachwuchs aber partout nicht die Rolle des Engels mit dem Schwert spielen will, sondern eher eine langweilige, antriebslose Töle ist, dann preisen Sie Ihr Kleines doch einfach als Kristallkind an. Wenn der Indigobalg dem rebellischen ADHS´ler entspricht, dann ist das Kristallkind ein ADH-Kunde vom Typ Träumer. Es erscheint wissend, allerdings mit verzögerter Sprachentwicklung. Fälschlicherweise werden Kristallkinder gerne als Autisten diagnostiziert, dabei klingt doch schon ihr Name nach einer geheimnisvollen Schatztruhe der sicherlich auserwählten Eltern. Kristallkinder