Flucht. Manfred Andreas Kappes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred Andreas Kappes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738067637
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Krieg geht zu Ende

      … ein gewaltiger Flüchtlingsstrom ergießt sich …

      Das Jahr 1945 war heran gekommen, und damit mehr oder weniger alle Hoffnungen auf ein für unser Volk glückliches Ende des zweiten großen, ja größten aller bisherigen Kriege geschwunden.

      Von Osten und Westen drängten die Gegner auf unsere nur noch tapfer abwehrenden Truppen ein. Aber gegen den gewaltigen Aufwand von Material und Menschenmassen nützte auch der starke Widerstand nichts. Immer wieder wurden unsere Armeen zurückgedrängt, und bald standen die Feinde in Ost und West auf deutschem Boden.

      Nun begann ein gewaltiger Flüchtlingsstrom sich in das Innere des Vaterlandes zu ergießen. Zwar hatte man immer noch auf das von der Propaganda erwähntes Wundergeschoß gehofft, das bei seinem Einsatz sofort einen Umschwung herbeiführen würde, aber es blieb aus. Der Zustrom an Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten war gewaltig und kaum unterzubringen. Unendlich viele zogen auch weiter nach der englischen und amerikanischen Zone, so daß Schleswig-Holstein und die anderen Westgebiete von ihnen überschwemmt waren. Deshalb wurden überall Wohnungen beschlagnahmt.

      Ende August kam plötzlich der Bescheid der Schulbehörde, daß wir das Schulgebäude verlassen müssen. Wohin nun? Aber Gott hat vorgesorgt auf wunderbare Weise. Einige Zeit vorher war der Büdner gestorben und kurz darauf auch seine Frau. So wurde das Haus für uns frei.

      Die Flüchtlingskolonnen kamen auch nach Mecklenburg und bald hatten wir sie in unserem abgelegenen Dorf Darss. Das Elend in diesen großen Trecks, mit de- nen die Geflüchteten ihr wenig mitnehm bares Gut weiterschafften, war grenzenlos. Viele der alten gebrechlichen Leute, kleine Kinder, hilflose schwache Frauen waren schon am Wege liegen geblieben und niemand hatte sich um sie gekümmert, weil jeder mit sich selbst zu tun hatte.

      Die Pferde waren abgejagt, waren kraftlos und konnten oft nicht weiter, starben am Wege, und wenn kein Ersatz war, mußte auch das bisschen Hab und Gut liegen bleiben. Nun galt es, diese Flüchtlinge aufzunehmen, unterzubringen und zu versorgen. Aber der gute Wille unserer Bauern bewältigte auch diese Aufgabe. Die Schulstube wurde auch ausgeräumt und mit Stroh belegt als Massenquartier. Meistens zogen die Leute dann noch am nächsten Tage weiter.

      Nun lagen die Russen vor Berlin und die Seitenflügel ihrer Armeen drangen im Süden und im Norden der Großstadt weiter vor. Schon konnte man bei günstigem Wind das Donnern der Geschütze vernehmen. Noch war Mecklenburg frei, aber auch vom Westen drängten die Engländer und Amerikaner stark heran. Anscheinend mußte es dazu kommen, daß beide Parteien sich in Mecklenburg die Hand reichen würden. Wer wird es zu-erst gewinnen?

      ‚Nur nicht in die Hände der Russen fallen‘

      war die Losung.

      Außer mir hatte schon vor einem Jahr auch meine Schwiegertochter Lissy mit ihren Kindern vor den Bombenangriffen auf Kiel und Umgebung hier Zuflucht gesucht und gefunden. Denn in dem abgelegenen Darss hatten die feindlichen Flieger keine Angriffsziele.

      So hatten wir die Kriegszeit, abgesehen von manchen Einschränkungen, hier fast wie im Frieden verlebt. Als nun aber die Sache brenzlig wurde, fragte man sich: ‚Was tun wir?‘ Lyssi wollte mit ihren Kindern nachkommen, wollte aber Anne-Marie mithaben, weil sie glaubte, die Flucht nicht allein mit ihren Kindern bewerkstelligen zu können.

      Aber Anne-Marie konnte sich nicht entschließen, alles im Stich zu lassen. So verzögerte sich die Abreise, bis es schließlich zu spät war, denn unsere Truppen sprengten unnützerweise alle Brücken.

       Ich hätte mich sonst bereit erklärt, allein hier zu bleiben um Haus und Sachen und Viehzeug zu bewahren. Trotzdem entschloß sich Anne-Marie hier zu bleiben, weil auch sonst niemand von den Einheimischen sich auf den Weg machte. So blieb also nur übrig, als Entwicklung der Dinge im Vertrauen auf Gottes Beistand in die Augen zu sehen.

      Hitlers Tod

      Gespannt horchte man auf jede Nachricht, jedes Gerücht, und die Flüchtlinge wußten ja von manchem Schrecken zu erzählen. Als letzter Flüchtling traf ein Forstmeister mit seiner Familie per Auto und mit dem Treck, der seine Habe beförderte, bei uns ein und wurde auch im Schulraum untergebracht.

      Es war der 30. April 1945.

      [10 Tage zuvor feierte der »Führer« Adolf Hitler seinen 56. Geburtstag, d. Hrsg.rsHhhh]

      Am Abend kündigte der Rundfunk eine wichtige Nachricht für den folgenden Morgen an. So saßen wir denn alle zusammen in der besten Stube, auch die wenigen Flüchtlinge, die noch da waren und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Da wurde uns mit-geteilt, daß der Führer im Kampf um seine Hauptstadt gefallen sei und Admiral Dönitz in seinem Auftrag die Regierung übernommen habe.

      Der Krieg gehe weiter! Später allerdings stellte sich heraus, daß wir auch diesmal, wie so oft, belogen worden waren. Der Führer hatte sich gemeinsam mit seiner Sekretärin mit der er sich noch am Tage vorher hatte trauen lassen, das Leben genommen, und Goebbels war ihm mit seiner Familie gefolgt.

      Was nun aber noch weiterer Widerstand bedeuten soll- te, blieb wohl allen rätselhaft, denn es war doch alles verloren und weiterer Widerstand war Mord am Volk.

       Der einzige Wunsch war nun der, daß doch die Engländer und Amerikaner den Russen möchten zuvorkommen. Aber bald wurden die Russen in Retzow – das liegt ca. 6 km östlich von Darss – als angekommen gemeldet, während Engländer und Amerikaner in Parchim – 10 km westlich von Darss – sein sollten. So waren die Ersteren also näher. Gewisses konnte man aber nicht erfahren. Rundfunk, elektrisches Licht, alles versagte.

      Der erste Russe

      Am 3. Mai, es war ein Donnerstag, kommt die Nachricht, daß die Russen in Karbow seien und dort bereits plünderten. Am Nachmittag erscheint dann auch ein russischer Offizier oder Kommissar auf unserem Dorfplatz. Alles ist gespannt, was nun werden würde. Hinter den Fenstergardinen beobachteten die Leute sein Vorhaben.

      Er steigt aus und geht dann in eins der Bauernhäuser, kommt wieder allein heraus, hat also niemand mitgenommen. Geht weiter von Haus zu Haus und revidiert nach Waffen oder versteckten Soldaten. Schließlich kommt er auch aufs Schulhaus zu. Ich sehe ihn kommen. Die Frauen mit den Kindern gehen in die hintere Wohnstube, in der Haustür empfange ich ihn, der mit so einem grimmigen Gesicht herankommt, daß ich ihm fast ins Gesicht gelacht hätte wegen seiner Verstellung. Kein Gruß.

      Seine erste Frage ist: ‚Deutsch?‘ Ich antwortete: ‚Ja‘. Uhr abgenommen. Leider, meine mir so liebe Uhr, die ich seit meiner Konfirmation getragen habe. Sie war in seiner Tasche verschwunden, nur den Uhrschlüssel hatte ich behalten. Er wird wohl einen anderen gefunden haben. Weiter fragt er nach Waffen. Keine vorhanden.

      Dann geht er durch alle Zimmer; ich immer mit und öffne bereitwilligst alle Schränke und Schubladen. Es wird nichts Verdächtiges gefunden. Dann kommen wir in die Stube mit den Frauen und Kindern. Wie wird es ihnen ergehen? Peter Grohmann ist so ehrlich, seine Armbanduhr herbeizuholen und an ihn auszuliefern. Schmucksachen sind längst versteckt, also nicht zu haben. Die Trauringe werden uns gelassen. Dann zieht er seinen Revolver und fragt noch einmal nach Waffen. Es sind keine im Hause.

      Bei seinem weiteren Suchen im Zimmer sieht er in der Ecke beim Schreibtisch Willys Schreibmaschine stehen. Er reißt sie aus dem Kasten, schleudert sie auf den Fußboden und zertrampelt sie mit seinen Füßen. Dann ver- langt er meinen Ausweis und fragt mich, ob ich Ingenieur sei.

      Auf meine Antwort, daß ich Lehrer bin, was er nicht verstehen konnte, gibt er mir die Papiere zurück und geht dann in die Schulstube, wo er sich den Flüchtlingen zu- wendet, um sich um ihre Uhren und eventuelle Schmucksachen bemüht. Dann verläßt er das Haus und nimmt draußen von den ihn umringenden Polen Ab- schied.

       Wir meinten, von der ersten Begegnung mit den gefürchteten Russen noch einmal so glimpflich davon gekommen zu sein. Da wir nach den Gerüchten über die Russen besonders um die Frauen fürchteten, war