Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Dieter Heun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742728463
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war er an der Reihe und würde ihr zeigen, was er so alles auf der Latte hatte. Hannemann wühlte sich in ihrem Leib, Schultern und Schenkel schmeckten köstlich. Warum nicht wagen, ein weiteres Geheimnis zu lüften, nämlich zusammen mit der Blonden Whisky zu trinken? VAT 69, Tropfen mit dem Geruch von Sturm über Meereswogen und dem Geschmack nach rohen Muscheln. Die Blonde hatte nicht das Geringste dagegen, wippte und yippte bald lüstern erregt. Ihr Sopran kletterte mühelos auf das hohe C, während sie ihrerseits Hannemann gleich Gutes tat.

      Biblisch beschrieben: Sie wurden ein Fleisch. In Wirklichkeit falsch: Sie wurden Haut eng auf Haut, überhitzte Körper, ein Wust aus umeinander geschlungenen Armen und Beinen. Sie wurden Geschlecht in Geschlecht. Sie mochten das sehr.

      In einer notwendigen Pause nach dem fünften Orgasmus ohnegleichen erzählte Hannemann, dass seine Eltern ein edles, bestens besuchtes Restaurant nebst einer Tanzbar außerhalb von München besäßen. Klingt gut, dachte die Blonde und sah sich bereits im tief ausgeschnittenen Chiffon-Kleid auf einem Barhocker viele bunte Cocktails schlürfen. Sie gab noch stärker Gas.

      Nach dem neunten Orgasmus ohnegleichen beichtete Hannemann, dass er zwar das Abitur bestanden hätte, dennoch unbedingt Koch werden wolle und irgendwann später das elterliche Etablissement zu einem berühmten Feinschmeckertempel umwandeln würde. Auch gut, dachte die Blonde, lecker Essen ihr Leben lang. Sie konnte nicht kochen, dafür umso besser blasen. Sie bewies es immer und immer wieder. Nicht nur in jener ersten gemeinsamen Nacht. Und wenn sie nicht gestorben ist …

      Hannemann klappte das Kapitel halbwegs glücklicher Erinnerungen zu. Aus einem gewissen Abstand betrachtet war das Zusammenleben mit der Blonden gar nicht so voller Schrecken gewesen – zumindest vor ihrer Ehe. Momentan gab es jedoch Wichtigeres zu bedenken: Er wurde überwacht. Na und, war das etwa neu? Seit seiner Kindheit hatte er das unbestimmte Gefühl, jemand schaue ihm ständig über die Schulter. Richtig Angst hatte er deswegen nie empfunden. Keine Schweißausbrüche oder Kribbeln im Nacken erlebt. Ehrlich bedacht, hatte er sich eher behütet gefühlt und oft versucht, durch schnelles Umdrehen seinen Schutzengel zu entdecken. Allein unter der Bettdecke sogar mit dem Beschützer geredet. Seit seiner Auferstehung aus der Hölle war er sich jedoch besonders bewusst, dass er nicht unbeobachtet durchs Leben stapfte. Jetzt, da ihm Deborah die Gewissheit gegeben, schmeichelte ihm seine Observation geradezu. Diese besondere Wertschätzung hob ihn immerhin aus dem Dunst des Unwichtigen und der Unwichtigen, gab ihm Bedeutung.

      Wer überwachte und wie viele Wächter man dafür aufbot, wollte er noch nicht wissen. Das konnte warten. Was er jetzt als erstes brauchte, war eine Person, mit der er seine Gedanken teilen, die er in seine Geheimnisse einweihen, von der er erwarten konnte, dass sie ihn wenigstens in etwa verstand. Was aber lag näher, als zuerst an seine gegenwärtige Lebensbegleiterin zu denken. Die junge Frau hatte bereits mehr als fünf Jahre gegen Sorgen, Verzweiflung und sein Ende gekämpft, allein für ihn und in ihm gelebt. Trotzdem prüfe, wer sich weiter bindet. „Bin, ich muss mit dir reden!"

      In der Nacht zuvor hatte er wie gewohnt all ihre ihm offenen Regungen des Unterbewusstseins studiert und war erneut vollständig überzeugt worden. Immer wieder suchte ihr Körper im Schlaf den seinen, ihr Gesicht war ihm in unbedingtem Vertrauen zugewandt, und ihre kleinen Hände versuchten ständig, einen Teil von ihm zu berühren. Als er sie in der Morgendämmerung sanft umdrehte, um sich mit Löffelchen zu befriedigen, wurde sie gar nicht richtig wach, erwiderte jedoch im Halbschlaf sein zärtliches Drängen.

      „Bin, wer bist du?"

      Hannemann selbst hatte ihr oft genug zugeflüstert, sie wäre sein Schutzengel, sein zweites Herz, sein Frühling, seine Wiese, sein neues Leben. Bin erkannte, diesmal wollte er anderes hören. Entscheidendes.

      „Ich bin dein freier Wille", und als er nicht erstaunt, eher nachdenklich wirkte, „du hattest dich doch schon längst entschieden zu kämpfen, brauchtest allein ein bisschen Unterstützung. Und dieses bisschen Hilfe bin ich."

      Das war klar und offen, beruhigend. „Ich habe Hunger, du hast mich heute Nacht ziemlich geschwächt. Komm, mach uns Frühstück, und dann erzählst du mir, was du von mir weißt.“

      Bin, Namenträgerin einer kleinen keltischen Göttin, sah ihren eigenen Gott lange an. „Ich weiß einiges, aber ich finde noch keine Zusammenhänge. Vielleicht lässt du erst mal was raus, bevor ich etwas dazu sage."

      Das war sinnvoll. Also redete er bei rotzig gebratenen Spiegeleiern auf krossem Paprikaspeck und friesischem Tee mit Kandis von seinen vielen Leben und sogar von den vielen verschiedenen Frauen in jenen Leben. Deborah eingeschlossen. Er sprach von seiner immerwährenden Suche und seinem Scheitern, sprach weiterhin davon, dass er diesmal nicht so einfach aufgeben wolle. „An sich hatte ich schon immer das unbestimmte Gefühl, ich würde mich von anderen Menschen unterscheiden. Es klingt verrückt, aber ich glaube, ein höheres Wesen hat mir eine Aufgabe gestellt. Ich soll wohl noch große Taten vollbringen, weiß aber nicht, wie die zu bewerkstelligen wären. Ich besitze viele Fähigkeiten und habe sie, vermutlich aus Bequemlichkeit, nicht richtig genutzt. Irgendwann einmal werde ich mich wohl bei diesem höheren Wesen dafür rechtfertigen müssen.“

      Hannemann sprach langsam, stockend, er musste erst die vielen Gedanken ordnen. „Wenn ich etwas wissen wollte, meinen Lehrern mit vielen Fragen auf die Nerven ging, stieß ich bei ihnen auf Unverständnis. Und wenn mich einmal einer aufklären konnte, war ich wohl zu hochmütig, die Einfachheit zu sehen. Ich besitze heute noch diesen Hochmut. Noch eines, ich habe immer gewusst, die Blonde würde ein entsetzlicher Irrtum werden und habe mich nicht dagegen gewehrt."

      Es gab nun hausgemachte Stachelbeermarmelade auf gebutterten Vollkornscheiben mit einer frischen Tasse Tee. Bin, hellwache Augen, hörte aufmerksam zu.

      „Erst nach den letzten Operationen verstand ich, dass mein Geschmack, meine Sympathie und meine Abneigung, bei allen Entscheidungen, die mich betreffen, bedeutend sind. Ich glaube nicht, dass ich mich darin irre. Aber angenommen, ich würde mich irren, und ich hätte hundertmal das Falsche getan, dann muss es, Gott verdammt noch mal, trotzdem bei jeder weiteren Entscheidung die Wahl zwischen richtig und falsch noch ein weiteres Mal geben. Und diesmal habe ich mich anders entschieden, werde mich auch weiterhin anders entscheiden."

      Hannemann hatte sich in Rage geredet. Bin lauschte schweigend, da kam ihm ein anderer Gedanke: „Du weißt, wie gerne ich im Fernsehen Wissenschaftssendung über die Entstehung des Weltalls verfolge. Seit einiger Zeit wird in diesen Beiträgen immer öfter die Theorie vertreten, es gäbe nicht nur ein Universum, sondern unendlich viele. Und ebenfalls unendlich viele Welten, die exakte Spiegelbilder unserer eigenen Welt sind. Weiterhin würden in diesen unendlich vielen anderen Welten unendlich viele genaue Kopien von uns selbst herumspazieren. Ganz ehrlich, Bin, ich wusste das bereits. Zwar nur von einer anderen Welt und ebenso nur von einem Doppelgänger, aber ich weiß von ihm und gleichfalls von seiner Frau. Folglich von meiner.“

      Bin schien diese Ungeheuerlichkeit nicht einmal zu bemerken. „Woher hast du das alles?" Sie fragte nicht staunend, eher mit einer Neugierde, die die Antwort schon ahnt. „Seit wann kennst du deine angeblichen Vorleben und seit wann weißt du von angeblichen Doppelgängern?"

      Wenn er Vertrauen fordern wollte, musste er auch Vertrauen zeigen. Also zögerte er nicht. „An und für sich beruht mein heutiges Wissen auf einem Irrtum. Mein Aufenthalt im Krankenhaus, die Intensivstation, du erinnerst dich bestimmt an den Tag, an dem ich in die Röhre geschoben wurde. An dem ich mich der Computertomographie unterziehen musste. Damals wusste ich, dass ich dran war. Es war dieses Dröhnen in der Enge, dieses rote Stopplicht, der rhythmische endlose Sprechgesang: „Bitte einatmen ... Luft anhalten ... ausatmen ... bitte einatmen ... Luft anhalten ... ausatmen ... bitte einatmen ... Luft anhalten ...“

      Es raubte mir den Willen. Meine Muskeln, Organe und Nerven wurden geradezu hypnotisiert, in den Schlaf zu gleiten und alles zu vergessen. Hätte man mich nicht am Ende der Untersuchung gezwungen, selbständig die paar Meter zu meinem Rollstuhl zurück zu gehen, ich glaube, ich wäre gleich dort gestorben.

      Dann lag ich wieder, mit piepsenden und flimmernden Monitoren durch Schläuche und Kabel fest verbunden, auf meinem zu engen Lager und wartete. Unmöglich, mich in der Breite des Bettes zu wenden. Am Fußende hatte man das Stützbrett entfernt, und meine