»Auch Leid ist gottgegeben …«
»Ja, wenn man es aus dieser Warte betrachtet … Ich muss mich dann wieder um meine Schäfchen kümmern. Bis bald, Schwester!«
Twyla ging nachdenklich zurück zu ihrer Spielgruppe. Dabei kam ihr so mancher Gedanke. Ein Glück, dass die Schwestern keine schwarzen Gewänder und Schleier tragen, dachte sie. Das würde die Säuglinge womöglich noch mehr ängstigen. Warum gab es im Haus eigentlich keine Krankenstation? Kranke Kinder verblieben in ihren Betten, und es kam nicht selten vor, dass sie andere damit ansteckten. Doch in dieser Hinsicht war mit dem Reverend nicht zu reden. Twyla hatte es mehr als einmal versucht. Er war der Meinung, der notfalls herbeigerufene Doktor würde sein Bestes tun. Für eine Krankenstation mit ihrer technischen Ausstattung fehlten einfach die Mittel. Was mit den Kinderleichen geschah, daran wagte Twyla gar nicht zu denken. Fakt war, dass es keinen Friedhof auf dem Gelände gab.
In einem anderen Punkt war sie mit dem Reverend uneins: Er verlangte, dass die Kleinen im Spielzimmer angebunden wurden, damit sie nicht wild umherlaufen und sich verletzen konnten. Twyla drehte es jedes Mal das Herz um, wenn sie mit ansah, wie die Kinder nach ihren Bauklötzen hangelten, durch ihre Anbindung mittels einer einfachen Schnur behindert. Aber der Reverend beharrte auf seiner Anordnung und ließ nicht mit sich reden.
Wenn sie nachts, während die Kinder schliefen, lautlos durch die Gänge wandelte, war ihr schon mehrmals passiert, dass sie am Ende des Ganges eine bläuliche Frauengestalt erblickt hatte. Anfangs hatte sie geglaubt, es handle sich um eine Kollegin, deren blaugraues Gewand durch das Mondlicht angestrahlt wurde. Doch die Gestalt umgab zusätzlich ein feiner Nebel, der sie vollständig einhüllte.
»Immer wenn ich auf sie zueile und sie ansprechen will, verschwindet sie von einem Augenblick auf den anderen. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu«, sagte Twyla zu ihrer Kollegin, Anora Adams.
»Du bist nicht die Einzige, die sie sieht«, meinte die aschblonde, junge Frau mit dem unscheinbaren Gesicht, in dem die blauen Augen das hervorstechendste Merkmal waren. »Man nennt sie die Blaue Dame. Es soll sich um die arme Aethel handeln, eine ehemalige Kollegin, die vor uns hier nur kurz gearbeitet hat. Sie hat sich aus Liebeskummer vom Dach des Hauses gestürzt, heißt es.«
»Hat sie dabei nicht an ihre Schützlinge gedacht?«, fragte Twyla. »War sie denn schwermütig veranlagt?«
»Offensichtlich. Im Liebeswahn vergessen sich so manche Frauen. Sie soll von einem Lehrer hier im Haus nicht erhört worden sein. Er hat sich sogar jegliche Annäherung verbeten.«
»Wie schrecklich. Wer war es? Unterrichtet er noch?«
»Nein, er hat kurz darauf gekündigt.«
»Warum ist darüber nichts bekannt geworden?«
»Weil der Ruf des Hauses nicht gefährdet werden sollte. Frag den Reverend nur nie nach Aethel. Dann wird er gleich unwirsch. Angeblich hat nie eine Erzieherin mit diesem Namen hier gearbeitet.«
»Eine seltsame Geschichte. Wo wir gerade bei den ungewöhnlichen Vorkommnissen sind: Hörst du nachts auch das leise Wimmern?«
»Da wird ein Kind unruhig träumen oder Heimweh haben …«
»Nein, das ist es nicht. Wenn ich in den Schlafsälen nachsehe, ist alles ruhig. Manchmal kommt es mir vor, als käme es aus den Wänden.«
»Das ist sicher nur der Wind, der durch die Kamine pfeift. Oder das Holz der Wandvertäfelungen arbeitet noch. Es könnten aber auch Kindergeister sein. Huh, wie gruselig!«
»Die Blaue Dame ängstigt dich nicht, aber eventuelle Kindergeister?«
»Na ja, nicht wirklich. Aber es ist schon ein Unterschied, ob eine erwachsene Frau freiwillig aus dem Leben scheidet oder ein Kind an einer Krankheit stirbt. Wo es doch das ganze Leben noch vor sich hatte.«
»Seltsam, dass du das sagst. Ich habe erst unlängst erfahren, dass zwei Säuglinge verstorben sind.«
»Das wundert mich nicht. Die Säuglingssterblichkeit ist immer noch immens hoch. Die Medizin ist eben noch nicht so weit.«
»Weißt du, wo man die Kleinen hinbringt? Ich meine, ein Friedhof existiert doch nicht.«
»Nein, wahrscheinlich werden sie abgeholt und an der Universität der Forschung zur Verfügung gestellt. Angehörige, die etwas dagegen haben könnten, gibt es ja keine.«
»Leider. Und dann darf man ihnen noch nicht einmal Liebe schenken, weil es strikt untersagt ist.«
»Das muss dich doch nicht kümmern. Mir kann keiner vorschreiben, was ich mit meinen Gefühlen anfange. Und erst recht nicht, wenn es Muttergefühle sind. Wenn so ein Würmchen die Ärmchen nach mir ausstreckt, werde ich weich wie Wachs.«
»Interessant, was Sie so zu erzählen haben«, sagte eine schneidende Stimme, die zu einer herben Frau mit fast männlicher Ausstrahlung gehörte. Die dicken Brillengläser machten Draca Scobahull nicht gerade sympathischer. »Weiß der Reverend, dass Sie seine Anordnungen missachten?«
»Nein, und wenn Sie mich nicht denunzieren, wird es auch dabei bleiben«, sagte Anora.
»Das hat nichts mit Denunzierung zu tun. Sie untergraben den Erziehungsstil dieses Hauses.«
»Pass mal auf, du Brillenschlange! Es heißt nicht umsonst: Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand’. Wenn du uns schon heimlich belauschst, dann spar dir wenigstens deine Kommentare«, schimpfte Anora.
»Ich habe Ihnen nicht das Du angeboten und verbitte mir Ihre despektierlichen Äußerungen. Andernfalls werde ich gegen Sie vorgehen.«
Damit drehte sich Miss Scobahull auf dem Absatz um und entschwand.
»Die hast du dir jetzt zur ewigen Feindin gemacht, glaube ich«, sagte Twyla.
»Mir doch egal. Ich konnte sie ohnehin noch nie ausstehen. Und wie sie mit den Kindern umspringt, ist ein Skandal. Die soll sich nur vorsehen, dass ich sie nicht ankreide.«
»Gemach, gemach. Wir müssen doch alle miteinander auskommen.«
»Wer sagt denn das? Ich mach meins und die ihres. Aber wenn sie die Kinder quält, bekommt sie es mit mir zu tun. Der alte Drachen heißt nicht umsonst Draca. Die Eltern müssen schon geahnt haben, was sie da in die Welt gesetzt haben.«
Twyla lachte herzhaft.
»Du bist herrlich. Aber sei etwas vorsichtiger. Wenn man dich rauswirft, bekommen die Kinder wieder etwas weniger Liebe.«
Anora Adams vergaß bald die Warnung ihrer Kollegin Twyla. Außerdem gebot ihr Sinn für Gerechtigkeit, weiterhin die Augen offen zu halten. Da sah sie den kleinen Willis vor einem der Klassenzimmer stehen. Über das Gesicht des etwa siebenjährigen Jungen liefen dicke Tränen, und er hielt sich den linken Arm.
»Was ist dir denn passiert? Bist du hingefallen?«
Willis schüttelte den Kopf.
»Mr. Winterbottom hat mir den Arm nach hinten gedreht. Vorher musste ich die Hose herunterziehen, und er hat mir vor allen mit dem Lineal auf den nackten Po geschlagen.«
»Und warum hat er das gemacht?«
»Weil ich angeblich geschwatzt und auf seine Frage keine Antwort gewusst habe.«
Das Gespräch vor der Klassentür rief Wentworth Winterbottom auf den Plan. Der hagere Mann mit den kalten Augen war bekannt dafür, mit dem Lineal so kräftig auf die Hände der Kinder zu schlagen, dass auch mal ein Finger brach.
»Was ist hier los?«, fragte er mit schneidender Stimme. »Ich wünsche absolute Ruhe auf dem Gang während des Unterrichts. Kollegin, das müssten Sie doch eigentlich wissen.«
»Wenn Sie die Kinder nicht grün und blau schlagen würden, bräuchten sie auch nicht zu weinen.«
Mr. Winterbottom zog die rechte Augenbraue hoch.
»Was machen