Kapitel 7: Flügelpferd
„Das geht viel zu langsam”, quengelte Pryssalia dem Gaul die Ohren voll. „Wir müssen beim König sein, bevor Torturiel Ernst macht!”
Ihr Reittier setzte unbeeindruckt seinen gemächlichen Trab fort.
„Wir reiten über ebenes Grasland, ohne nennenswerte Hindernisse! Wo ist das Problem?”
Der Gaul schnaubte kurz auf.
„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Also, ich muss dir leider mitteilen, dass ich von deiner Leistungsbereitschaft ziemlich enttäuscht bin …”
In ihrem Rücken stand die Sonne schon weit im Westen. Irgendwo in östlicher Richtung lag Winzlingen; bislang war jedoch nichts von der Stadt zu erkennen. Dafür zeichnete sich am Horizont die Hohe Klippe ab, aufgrund der Entfernung nur klein, doch spitz und scharf wie ein Rattenzahn. Und irgendwo unten befand sich, schutzlos wie eine Maus, die Stadt …
Ich muss mir etwas einfallen lassen.
Pryssalia stieg vom Pferd, das erleichtert aufatmete. Sie zog den Zauberstab hervor und strich mit den Fingern am feinpolierten Holz des Stiels entlang, dann an der Spirale, in die das Zauberwerkzeug auslief. Nur ein wenig Zauberkraft, und ihre Feenflügel könnten sie in Windeseile ans Ziel tragen. Allerdings hatte sie ihr Versprechen gegeben, nicht zu zaubern. Eine vertrackte Situation!
Moment mal! Was hatte sie eigentlich versprochen? Nicht zu fliegen, oder nicht zu zaubern? Der genaue Wortlaut erschien ihr auf einmal sehr wichtig.
Das Pferd wieherte. „Sei still”, befahl Pryssalia, „ich muss mich konzentrieren! Also, soweit ich mich erinnere, habe ich versprochen, dass ich nicht zaubern werde, um zur Hauptstadt zu fliegen – damit war natürlich gemeint, dass nicht ich fliegen würde, das versteht sich ja wohl von selbst. Aber ich habe nicht versprochen, dass du nicht fliegen würdest!”
Dem Gaul stand die Mähne zu Berge. Ein wimmerndes Wiehern kroch über seine Lippen.
„Keine Widerrede! Du kriegst ein Paar schöne Flügel, und dann ab die Post! Du wirst sehen, es tut überhaupt nicht weh!”
Der Gaul legte den Kopf schief und blickte so misstrauisch, als hätte er jahrelang daran geübt. Die Fee stellte sich in Positur und richtete den Zauberstab auf ihr Opfer.
Strahlend gelbe Funkenwolken sprühten aus der Stabspitze und umschlossen das zitternde Tier.
Als der Funkenstrom sich verzogen hatte, begutachtete die Fee ihr Werk. „Hm. Nicht ganz das gewünschte Ergebnis.” Sie musterte die vier Schwimmflossen, die anstelle der Hufe gewachsen waren. „Du siehst aus wie zwei große Enten, die sich als Pferd verkleidet haben.”
Der Gaul prustete vor Entsetzen auf und äugte an seinen Beinen hinunter.
„Keine Angst, das haben wir gleich. Ich muss mir nur einfach die Flügel besser vorstellen.” Sie schloss die Augen und hob erneut den Stab.
Der Gaul scharrte ungeduldig mit den Flossen.
Und schon trat wieder ein Funkenstrahl aus, golden-orange diesmal. Die Funken zogen in geschmeidigen Bahnen um das Tier und legten sich wie glitzernde Schleier um seinen Körper.
Kurz darauf öffnete die Fee ihre Augen. Das Pferd besaß noch immer die Flossenfüße, trug aber zusätzlich an seinem Kopf zwei weit ausladende Gebilde. Flügel? Nein. Dann erkannte sie, was es war.
„Oh, tut mir leid, ein Geweih wollte ich dir nicht verpassen. Ich bringe das sofort wieder in Ordnung.”
Der Gaul begann leise zu greinen.
Wieder schloss die Fee die Augen. Der Gaul tat es ihr nach.
Nachdem der dritte Funkenregen auf das ehemalige Huftier niedergeprasselt war, prangten tatsächlich zwei prachtvolle Schwingen an seinem Rumpf.
„Na bitte.” Pryssalia verstaute den Zauberstab und kletterte wieder auf den Pferderücken. „Und jetzt flieg uns nach Winzlingen, wenn ich bitten darf. Um das Geweih und die Flossen kümmere ich mich, wenn wir dort sind.”
Der Gaul tat einen tiefen Seufzer und setzte sich in Bewegung. Seine Füße patschten über das feuchte Gras, die neuerworbenen Flügel flatterten hastig auf und ab. Mit zaghaften Hüpfern versuchte das Tier, vom Boden hochzukommen.
„Ruhig, ganz ruhig!” Pryssalia hatte alle Mühe, sich im Sattel zu halten, denn die Startversuche des Pferdes kamen unregelmäßig und stoßartig. Pryssalias Kiefer klapperten aufeinander. „Schnellelleller laufaufaufen! Flügügügügel schlalalagen! Hoppoppopp, abababstotototoßen!…”
Der Gaul bemühte sich, den Anweisungen zu gehorchen und stieß sich kräftig vom Boden ab. Wild schlugen die Flügel und übernahmen die Last von den Beinen.
„Nicht so hektisch! Mehr Kraft in die Flügel! Ruhig und kraftvoll durchziehen, auf … ab … auf … ab … Gut so! – Vorsicht, ein Baum! Höher! Los doch, höher!”
Der Gaul schnaufte vor Anstrengung, während er auf den Baum zusegelte. Im letzten Moment erreichte er Baumwipfelhöhe und die Fee war sich schon sicher, dass sie das Hindernis überwunden hatten, da verfing sich ein Flossenfuß unter einem Ast. Jäh wurde der Flug unterbrochen – Pferd und Reiterin stürzten in die Baumkrone. Zweige und Blätter rauschten an Pryssalias Ohren vorbei, bis ein dicker Ast ihren Fall bremste.
Etwas benommen versuchte sie wieder zu Atem zu kommen. Von schräg oben erklang ein klägliches Wiehern. Sie hob den Kopf. Über ihr hing der Gaul in einer Astgabel und sah alles andere als glücklich aus.
„Da bist du ja. Mach dir nichts draus. Manchmal braucht man mehr als einen Versuch, weißt du? Wie die hochverehrte Feenfürstin so trefflich zu sagen pflegt: Nur nicht das heiße Eisen ins Korn werfen!”
Ein langes Stöhnen entfleuchte dem Gaulmaul.
„Also los, gleich noch mal!”
Sie befreiten sich mühselig aus Blattwerk und Astgewirr und fanden eine freie Stelle, die wie ein Fenster die Sicht ins Freie erlaubte.
„Der perfekte Startplatz”, entschied die Fee und erklomm den Pferderücken. „Hier oben kannst du natürlich keinen Anlauf nehmen. Du springst einfach aus dem Baum und breitest die Flügel aus. Mit dem Fliegen solltest du beginnen, bevor wir auf dem Boden aufschlagen.” Sie tätschelte den Hals des Gauls. „Na los, auf ein Neues!”
Und der Gaul füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug und sprang ins Leere.
Kapitel 8: Fastfood
Um Nanobert kräuselte sich die Wasseroberfläche. Bis zur Hüfte stand der Prinz im Sumpfwasser und hielt das Kaninchen vor sich. Das Tier zitterte. „Tut mir leid, Kumpel, aber in so einer kritischen Lage muss jeder seinen Beitrag leisten.”
Sachte plätscherte Nanobert mit den Fingern im Wasser.
„Na los”, murmelte er, „es ist angerichtet.” Er schnalzte mit der Zunge. „Futter, Futter!… Lecker, lecker Futter!… Wo darf ich servieren, hm?”
Der Angriff kam von hinten, überraschend und tückisch. Nanobert riss seine Hand beiseite und die Schlickschlange schoss ins Leere. Zwei weitere glitschten aus dem Sumpf; ihre Giftmäuler schnappten nach dem Kaninchen. Hastig hob Nanobert es außer Reichweite; die Schlangen verfehlten die Beute und glitten ins Wasser zurück. Doch schon wurde die trübe Brühe immer unruhiger. Etliche Schlangenköpfe hoben sich an die Luft. Nanobert blickte schnell um sich. Ringsum wimmelte es von schleimig-schlängelnden Kreaturen. Immer wenn sie sich zum Sprung bereitmachten, zogen sie ihren Körper wie zu einer Spiralfeder zusammen, deren Spannung sie dann unvermittelt lösten und sich zu ihrem Ziel katapultierten. Das gab dem Prinzen bei den ersten Angriffen Zeit zu reagieren, doch allmählich nahm die Zahl der Angreifer bedenklich zu. Nanobert strebte im Sumpf in eine bestimmte Richtung. Die Schlangen folgten ihm und attackierten immer wieder das Kaninchen in