Die Sanduhr. Claudia Gürtler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Gürtler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014952
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tat er sich schwer. Wann immer die Königin ihm ihre verzweifelte Kälte entgegenschleuderte, zog er sich verletzt und kleinlaut in sein Labor zurück und überliess Schneewittchen ihren zerstörerischen Launen.

      Neunundzwanzig

      Mit ungläubigem Staunen liess der Doktor immer wieder seine Zeit in Grönland Revue passieren.

      Es war Ende Februar gewesen, als er ankam, und die ewige Nacht war seit einem Monat zu Ende; doch die kurzen Grüsse, welche die Sonne gegen Mittag über den Horizont schickte, hatten etwas Unwirkliches. Der Doktor brachte die grellen Strahlen, die auftauchten und gleich wieder verschwanden, nicht mit einem richtigen Tag in Zusammenhang. Zwar litt er als Neuankömmling unsäglich unter der Kälte, gleichzeitig aber fühlte er sich wohltuend konserviert. Selbst seine Verdauung war bei der konsequent fleischlichen Ernährung ohne Ballaststoffe zum Stillstand gekommen. Sparsam und geizig verwertete der Körper fast alles, was ihm zugeführt wurde. Abfallstoffe fielen kaum an, und im Bauch des Doktors tat sich wochenlang nichts. Beobachtend horchte er in sich hinein und füllte Seite um Seite seines Notizbuches mit detaillierten Aufzeichnungen.

      Schon im März aber begann sich das Leben schneller abzuspulen, was ihn beunruhigte. Sicherheit holte er sich in der stoischen Ruhe der Schneekönigin, die er lange und unverwandt anstarrte. Dabei war er sich nicht sicher, ob er wünschte, dass sie ihn bemerkte oder ob es ihm lieber war, wenn sie seine Indiskretion ignorierte.

      Im Juni, als das Eis aufbrach, die Hundeschlitten versorgt und die Boote hervorgeholt wurden, ahnte der Doktor, dass seine Tage in Grönland gezählt waren. Aber noch war ihm eine Pause vergönnt, noch klammerte er sich an die trügerische Hoffnung auf ewiges Leben.

      Anfang November fror die See wieder zu. An ein Fortkommen war nun nicht zu denken, und die dunkle, eiskalte Orientierungslosigkeit, die erzwungene Bewegungslosigkeit behagten dem Doktor. Er horchte in sich hinein und hatte tatsächlich das Gefühl, weniger Leben zu verbrauchen. Im kommenden Frühling aber ging die leichte Unzufriedenheit der Kollegen mit seinen Leistungen in handfeste Kritik über. Sobald das Eis aufbrach und das Meer freigab, sobald der Winterwind nachliess und Flugzeuge starten und landen konnten, würde er Grönland verlassen müssen. Verzweiflung nagte am Doktor und liess ihn spindeldürr werden. Die Aussicht auf eine gefährliche Reise setzte ihm ebenso zu wie das Bedauern darüber, dass er das gute Gefühl von Konserviertheit würde zurücklassen müssen. Nun hoffte er mit aller Macht darauf, wenigstens ein Stück Ewigkeit mitnehmen zu können. Sobald er den Mut dazu aufbrachte, würde er seine Schneekönigin fragen, ob sie ihn als seine Frau nach Europa begleite.

      Dreissig

      Die Schneekönigin hatte die Hunde bereits eingespannt. Sie wies dem Doktor seinen Platz auf dem Schlitten zu. Seine Beine waren zu lang und fanden nirgendwo Halt, denn das Gefährt war für gedrungene kurzbeinige Inuit-Körper gebaut. Es würde eine anstrengende Fahrt werden.

      Das hektische Gebell der Hunde zerriss die Stille des Sonntagmorgens, doch bald lag das Dorf weit zurück und das Keuchen der Hunde und das Knirschen der Kufen auf dem Eis waren die einzigen Geräusche. Sie wollte ihm die himmelblaue Grotte zeigen, die sie erst vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Sie würde dem Doktor in ihrer märchenhaften Unergründlichkeit gefallen.

      Plötzlich schwenkte der Schlitten in eine festgefrorene Spur im Eis ein. Die Rillen wurden schnell tiefer, und obwohl die Schneekönigin sich dagegen wehrte, folgte der Schlitten nun einem anderen Weg als dem vorgenommenen. Sie erschrak, als sie die Bedeutung dieses Orakels begriff. Sie selbst würde einen ungeplanten Weg zu gehen haben. Eine Weile sträubte sie sich noch, sass stumm und verzweifelt vor dem Doktor auf dem Schlitten, doch dann gestand sie sich eine kühle und überlegene Liebe zu dem hilflosen und lebensuntüchtigen Forscher ein, und als er sie fragte, ob sie mit ihm komme, um zweitausend Kilometer weiter südlich ihr Zelt mit ihm zu teilen, nickte sie stumm.

      Er hatte auf Freude gehofft, akzeptierte aber ohne Auflehnung, dass sie keine Freude zeigte. In seinem Herzen keimten die Glücksgefühle wie trotzige Schneeglöckchen, und er stellte sich voller Begeisterung vor, wie überwältigt sie sein würde, wenn sie erst im Überfluss der südlichen Hemisphäre ankam.

      Einunddreissig

      Nach Schneewittchens Geburt häuften sich die Sonntage, und mit den vielen Sonntagen nahm die Angst des Doktors vor dem Tod zu. Immer sonntags zog er gnadenlos Bilanz. Eine weitere Woche war vergangen, sieben kostbare Tage, die von seinem persönlichen Konto abgebucht wurden, ohne dass ihm Einblick gewährt wurde in sein Guthaben. Uhr ohne Zeiger. William hatte ihm vor Jahren zu Weihnachten ein Buch von Carson McCullers mit diesem Titel geschenkt. Es lag auf seinem Nachttisch, greifbar zwar, aber der Doktor achtete darauf, dass es immer von anderen Büchern bedeckt war. Ob er es je wagen würde, den Roman zu lesen? Zu deutlich war ihm bewusst, dass sie erbarmungslos dahintickte, seine Uhr ohne Zeiger.

      Wieder waren also sieben Tage vergangen, in denen ihn seine Bemühungen, ein Mittel zu finden, das dem menschlichen Zerfall zu Lebzeiten Einhalt gebot, keinen Schritt weitergebracht hatten. Dem Doktor war übel. Er schwitzte. Er fror.

      Er urinierte in ein Glas, hob es ins Licht und erschrak. Von Woche zu Woche war sein Erschrecken über die erzielten Ergebnisse tiefer. Er führte die üblichen Messungen und Labortests durch, piekste sich in den Finger, kontrollierte vor dem Spiegel den Zustand von Iris und Zunge, mass den Leibesumfang und stellte sich auf die Waage. Alle Resultate trug er sorgfältig und mit winziger Schrift in Tabellen ein. Es war noch Platz, aber hiess das auch, dass ihm noch eine ansehnliche Spanne Lebens vergönnt war?

      Zweifelsohne wurde er älter, von Woche zu Woche. Der Tod rückte näher, unaufhaltsam, auch wenn vorläufig keine körperlichen Krankheiten nachweisbar waren. Es dauert eine ganze Weile, bis heimtückisch schleichende Krankheiten messbar werden. Der Patient wiegt sich in Sicherheit, lässt sich einlullen vom beruhigenden Lächeln seines Hausarztes, während seine Zellen im Verborgenen die Weichen bereits gestellt haben.

      Alles Ungesunde hatte der Doktor schon vor Jahren aus seinem Leben ausgeklammert. Er ass wenig Fett, keinen Zucker und nur biologisch gezogenes Gemüse. Er rauchte nicht, er trank nicht, er ging früh schlafen und stand früh auf. Die Angst aber liess sich nicht bannen, und auch sie war ungesund. Nichts greift das Immunsystem so sehr an wie Angst.

      An jedem Montagmorgen stürzte sich der Doktor mit Schwung und Zuversicht in seine Arbeit. Der Sonntag war vorbei. Er war noch einmal davongekommen. Minutiös plante er die vor ihm liegende Woche, wobei ihm entging, dass er seinen Terminplan hoffnungslos überlud, sodass Verzweiflung und Entmutigung und der Gedanke an den Tod zum Ende der Woche vorprogrammiert waren.

      Hin und wieder fand er für kurze Zeit in Ablenkungen Erlösung; wenn er Schach spielte etwa oder wenn sich das Haus mit Gästen füllte. Nichts liebte der Doktor mehr, als gestört zu werden. Gleichzeitig grollte er jedem, der ihn von der Arbeit abhielt. In einem so kurzen Leben war es die grösste Todsünde, nicht zu arbeiten. Dennoch durchzuckte den Doktor Hoffnung auf das Ende aller düsteren Gedanken, als er Schritte hörte.

      William riss in gewohnt hochherrschaftlicher Manier die Tür zum Labor auf und rief:

      „Du bist wohl nicht gerade für eine Partie zu haben, Doc, oder?“

      Er trug ein frisches Hemd, dessen übertriebene Reinheit den Doktor blendete, und der monströse Schlüsselbund zog an der linken Seite die khakifarbenen Hosen gefährlich weit nach unten.

      Der Doktor heftete seinen Blick fragend auf den Schlüsselbund. William nahm ihn in die Hand und klimperte gutgelaunt damit.

      „Stell dir vor“, berichtete er theatralisch, „in Prag sanieren sie die Bahnhofshalle, und obwohl es da erstklassige Schliessfächer gab, haben sie die alten einfach auf den Müll geworfen. Ich musste nach Paris fahren, um mir ein frisches Hemd zu holen. Übrigens: hast du schon mal Gin mit Pfefferminzsirup getrunken? Es gibt da ein Lokal am Boulevard St.Michel ...“

      „Puuhhh!“, rief der Doktor überzeugt aus. Scheinbar bedauernd