Er hielt sich einiges darauf zugute, es beim „Morgenkurier“ zum Feuilletonchef gebracht zu haben, und das als Quereinsteiger, wie er gern betonte. Es handelte sich, wie er selbst zugeben musste, um ein ordentlich gemachtes Blatt, aber mehr im Grunde auch nicht. Manchmal gab es deswegen kleinere Reibereien zwischen ihm und Anna, die ihm immer wieder vorhielt, er könne und müsse mehr aus seinen Möglichkeiten machen, zu einer „richtigen großen Zeitung“ gehen, wie sie es ausdrückte. Er neige dazu, sich zu rasch abzufinden und zufriedenzugeben, und das wisse er selber insgeheim auch sehr wohl, sagte sie. Womöglich ahnte er es selbst, aber er hätte es nur ungern zugegeben. Und wenn schon, was war denn daran so schlimm, mit seinem Leben einigermaßen zufrieden zu sein und keine allzu großen Anforderungen zu stellen, vor allem nicht in materieller Hinsicht?
Manchmal fand er die Art, wie Anna dieses Thema behandelte, ein wenig anstrengend. Aber, nun ja, sie war nun mal Psychologin, hatte eben ihr Studium mit Bravour abgeschlossen und voller Stolz ihre erste Stelle in einer großen therapeutischen Praxis angetreten. Da musste er es ihr wohl nachsehen, dass sie ihn hin und wieder als eine Art Versuchskaninchen betrachtete, wie er scherzhaft sagte. Immerhin attestierte sie ihm auch jederzeit gern, dass er ein „ziemlich gebildeter und gutaussehender Mann“ sei. Das mache dann einiges andere wieder wett. Meistens endeten solche Diskussionen letztlich damit, dass sie beide lachen mussten.
Anna war gerade dreißig geworden, also gut ein Dutzend Jahre jünger als er. Aber schon bald, nachdem sie wenige Wochen nach dem Kennenlernen vor gut drei Jahren zu ihm in seine Altbauwohnung gezogen war, hatte er die Erfahrung gemacht, dass der Altersunterschied zwischen ihnen keine sonderlich große Rolle spielte. Gelegentlich kam es ihm sogar so vor, als sei sie mit ihrem Realitätssinn und Alltagspragmatismus die Lebensklügere von ihnen beiden, während er, „der Herr Feuilletonist“, wie sie ihn manchmal titulierte, in ihren Augen dazu neigte, „ein bisschen in den Wolken zu schweben.“
Dabei gab es Zeiten, in denen sie weniger energisch und lebhaft wirkte als sonst und sich förmlich in sich zurückzuziehen schien. Dann wurde sie sehr schweigsam, schien beinahe bemüht, ihm aus dem Wege zu gehen.
Doch dann erledigte sich eines Tages alles - ihr Reden, ihr Schweigen und auch sein berufliches Dasein.
3.
Am Morgen jenes Tages wurde Philipp vom Telefon geweckt. Der Wecker auf dem Nachttischchen an Annas Bettseite zeigte kurz nach zehn. Eigentlich Zeit zum Aufstehen. Aber er hatte einen freien Tag zum Ausgleich für den Sonntagsdienst, und an solchen Tagen schlief er gern aus, manchmal bis gegen Mittag. Er hoffte nur, dass nicht jemand in der Redaktion etwas von ihm wollte. Das kam hin und wieder vor, wenn auch nicht allzu häufig.
Schlaftrunken griff er nach dem Handy, das genau in diesem Moment verstummte, und schlurfte in die Küche, um sich, wie gewohnt, am Frühstückstisch zu bedienen, erst mal nur mit einem Kaffee. Anna, die immer vor ihm aus dem Haus musste, seit sie vor einigen Monaten ihren ersten Job angetreten hatte, pflegte alles zuzubereiten, nicht nur, wenn er frei hatte; der kleine Zettel mit einem Gruß neben seiner Tasse gehörte mit zu diesem Ritual – eine bewusst anachronistische Geste in den Zeiten von SMS und E-Mail, wie sie es beide nannten. Da er einen tiefen Schlaf hatte und Anna sich stets Mühe gab, leise zu sein, bekam er so gut wie nie mit, wenn sie aufstand, sich fertigmachte und die Wohnung verließ. Sein Arbeitstag dauerte schließlich bis spät in den Abend, daher schien diese Regelung nur fair. Er revanchierte sich dafür an den Wochenenden und brachte ihr das Frühstück ans Bett, bisweilen mit der Folge, dass er anschließend noch einmal zu ihr unter die Decke schlüpfte.
Diesmal fand er weder einen Zettel noch sonst etwas vor. Der Tisch war leer, nicht einmal der Kaffee angesetzt. Das war noch nie vorgekommen. Philipp spürte plötzlich ein Pochen in den Schläfen, nahm sich ein Glas Wasser aus dem Kran und überlegte, ob am Abend etwas zwischen ihnen vorgefallen war, das sie verstimmt haben könnte, ohne dass er es gleich bemerkt hatte. Aber nein, da war nichts gewesen, gar nichts. Anna war, so wie häufig, vor ihm zu Bett gegangen, nachdem sie zusammen ferngesehen und ein Glas Rotwein getrunken hatten, während er noch eine Weile mit Lesen verbracht hatte. In seinem Arbeitszimmer lag dauernd ein Stapel neuer Bücher, die er sichten musste, um sie an Kollegen oder freie Mitarbeiter zur Rezension zu geben oder selbst zu begutachten.
Der Festnetzapparat in der Diele klingelte. Philipp hoffte, dass es Anna war, aber als er abnahm, hörte er die Stimme von Roland Weidenfeld, seinem Chefredakteur.
„Sorry, Philipp, dass ich störe, ich hatte es auch schon auf dem Handy probiert, und, ja, ich weiß, du hast frei, aber es wäre trotzdem ganz gut, wenn du rasch herkämst. Es ist wichtig.“
„Wieso, was ist denn los?“
„Das kann ich dir jetzt nicht am Telefon erklären. Beeil dich bitte ein bisschen, es ist wirklich wichtig.“
Auch das noch! Philipp stieß einen leisen Fluch aus. Als Erstes musste er jetzt wissen, was mit Anna los war. Er versuchte es übers Handy, aber sie meldete sich nicht, die Mailbox war abgeschaltet. Dann rief er in der Praxis an. Frau Bertram sei heute leider nicht zum Dienst erschienen, teilte man ihm mit, und Gründe für ihr Fernbleiben seien nicht bekannt. Philipp war wie vor den Kopf geschlagen.
Während er sich im Bad hastig fertigmachte, überlegte er, wen er sonst noch anrufen konnte. Ihre Eltern, zu denen sie kaum Kontakt hatte, wohnten irgendwo in Süddeutschland. Dass sie ausgerechnet zu ihnen gefahren war, einfach so, schied als realistische Möglichkeit aus. Dasselbe galt für den Bruder, den es noch gab und der als Ingenieur meist im Ausland arbeitete, wie Anna einmal erwähnt hatte. Die Namen zweier Freundinnen fielen ihm ein, aber er hatte ihre Nummern nicht.
Beunruhigt und widerwillig machte er sich auf den Weg zur Redaktion. Wie immer nahm er das Rad, weil er damit schneller vorankam als mit dem Wagen und es außerdem nicht sehr weit war. Anna kleiner gelber Fiat stand nicht dort, wo sie ihn gestern Abend geparkt hatte. Bevor er das Zeitungsgebäude betrat, wählte Philipp noch einmal ihre Nummer und rief auch noch ein weiteres Mal in der Praxis an. Nach wie vor gab es kein Zeichen von Anna.
Anfangs hörte er nur mit halbem Ohr auf das, was Chefredakteur Weidenfeld ihm mitzuteilen hatte. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Normalerweise kam er mit Weidenfeld gut zurecht. Aber an diesem Tag ging ihm der übergewichtige Mann mit dem graumelierten vollen Haar, der ständig auf seinem Brillenbügel kaute, schlichtweg auf die Nerven. Was schwadronierte er denn da nur! Wie lange er, Philipp Kamphausen, jetzt bei der Zeitung sei, als geschätzter Mitarbeiter, beliebter Kollege und wichtige Führungskraft, beinahe fünf Jahre, eine lange Zeit in solch bekanntlich immer unsicher werdenden Zeiten, in denen sich vieles leider oft sehr rasch ändere, quasi über Nacht, wegen der fortschreitenden Digitalisierung, die den Printmedien immer mehr zu schaffen mache, und die Gesetze des Marktes seien nun mal so, wie sie seien, die Großen fräßen die weniger Großen, sodass das Gute nicht immer Bestand habe.
„Entschuldige mal“, ging Philipp dazwischen. „Weshalb erzählst du mir das eigentlich alles? Hast du mich deswegen extra herkommen lassen?“
Weidenfeld stockte nur kurz und redete ungerührt weiter. Er selbst stehe unter gewissen Sachzwängen, wisse, ehrlich gesagt, momentan nicht einmal, wie es mit ihm selbst weitergehe. Jedenfalls werde es das Feuilleton und vermutlich überhaupt das Blatt in der bisherigen Form nicht mehr geben. Und da er wisse, wie sehr Philipps Herz an diesem klassischen journalistischen Format hänge und wie wenig ihm daher die Umstellung im Zuge der Übernahme zuzumuten sei - „unter Kultur verstehen die nur noch Buntes, Vermischtes, Human Touch, Promi-News, dieses Lifestyle-Zeugs, na du weißt schon“ - habe man sich entschlossen, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst um neue persönliche Perspektiven und Optionen zu kümmern.
„Philipp, wie gesagt, niemand bedauert das so sehr wie ich. Aber ich meine, du bist ja noch ein junger