Alle Befragten reagierten wenig zugänglich, geradezu abweisend. Einige schauten sich nicht einmal die vorgelegten Fotos an. Beobachtet hatte angeblich niemand etwas. Ein jeder wies darauf hin, falls überhaupt eine Antwort außer einem Schulterzucken erteilt wurde, dass er anderes zu tun hätte, als hinter Touristen her zu spionieren. Ein alter Mann mit einem braun gebrannten Gesicht, dessen Haut von tiefen Furchen durchzogen war, nuschelte: „Wir haben keine Zeit, auf Touristen achtzugeben. Wir müssen auf unseren kargen Feldern mehr als hart arbeiten, um ein dürftiges Dasein fristen zu können.“
„Sind Sie nicht vom Bürgermeister aufgefordert worden, nach den Vermissten Ausschau zu halten bei ihrer mehr als harten Arbeit?“, hakte Pascal direkt nach.
„Ach, der Bürgermeister …“, lautete die hintergründige Antwort des Mannes, der sich daraufhin feindselig von ihm abwandte und den Rest des Satzes verschluckte.
Es war nicht zu übersehen, dass niemand ihnen helfen würde. Im Gegenteil, sie schienen etwas verbergen zu wollen, das wurde für Pascal immer offensichtlicher. Aber was? Wo war jemand anzutreffen, der bereit war, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, ihnen dienliche Hinweise zu geben?
In diesem Moment brachte ihnen der junge Mann das Essen auf einem hölzernen Brett. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Fotos in Pascals Hand und schüttelte wortlos den Kopf. In seinen Augen flackerte aber für einen Wimpernschlag lang etwas wie Angst auf, was Pascal alarmierte. Die Panik im Blick des Jungen war zwar nur kurz, aber unübersehbar gewesen. Die Art, wie er schnell den Tisch verließ, erinnerte Pascal an Flucht.
„Den knöpfe ich mir gleich noch einmal unter vier Augen vor“, murmelte er. „Haben Sie mitbekommen, wie seine Augen flatterten?“, fragte er Sophie.
Sie nickte.
„Wir müssen das Schweigen der Dörfler brechen.“ Pascal beugte sich zu ihr hinüber, seine leise Stimme klang eindringlich. „Wir müssen undichte Stellen ausfindig machen, mehr Druck ausüben. Es kann doch nicht angehen, dass es niemanden hier geben soll, der willens ist, zu reden. Ich kann mir keine Gemeinschaft vorstellen, die nicht wenigstens ein schwaches Glied in ihrer Kette aufweist. Vielleicht ist diese Alte ein solches Glied.“
Er griff nach der Weinflasche und schenkte ihnen ein. Von der Vesperplatte nahm er sich eine Scheibe Brot und belegte sie mit deftiger Wurst. Es half alles nichts, er musste etwas essen.
„Ich hoffe nur, dass man uns nicht mit Gewalt an unseren Nachforschungen hindern wird“, sagte er, als er den Mund wieder frei hatte. „Inzwischen halte ich nichts mehr für unmöglich in dieser gottverlassenen Welt, die offensichtlich nur nach eigenen Gesetzen lebt.“
Pascal schüttelte den Kopf. Er ballte die Hände zu Fäusten, musste verhindern, dass Sophie mitbekam, wie sehr seine Sorgen inzwischen angewachsen waren.
Draußen brach die Nacht an, Leonie war alleine in den Bergen – oder vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hielt etwas sie mit Gewalt zurück, da war er sich inzwischen absolut sicher. „Heute können wir nicht mehr viel unternehmen, denke ich. Es beginnt schon zu dunkeln. Vielleicht finden sich die beiden ja doch noch wieder ein. Wir sollten positiv denken, die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn nicht, werden wir morgen in die Berge fahren und nach ihnen suchen, falls mein Wagen bis dann wieder verfügbar ist. Ich gehe davon aus, dass sie von dem schlechten Wetter überrascht worden sind. Leonie zumindest.“
Sie leerten nach ihrem Essen eine weitere Flasche Wein und warteten auf neue Gäste, um sie zu befragen. Die wenigen Neuankömmlinge antworteten jedoch ebenso unbestimmt wie alle Befragten zuvor.
„So kommen wir nicht weiter“, erkannte Pascal schließlich verärgert. „Lassen Sie uns nach oben gehen, ich kann dieses Volk nicht mehr sehen. Ich muss hier raus, sonst vergesse ich noch meine gute Kinderstube.“
Sophie hatte nur sehr wenig gegessen, was er verstehen konnte. Es hatte gut geschmeckt, aber die Sorge um ihre Lebenspartner hatte auch ihn nur das Nötigste zu sich nehmen lassen. Er ließ ihren Verzehr auf das Konto seines Zimmers schreiben, gab bewusst kein Trinkgeld, womit er gewöhnlich recht großzügig war. Sie verließen die Gaststube.
Es regnete noch immer. Sie verwarfen ihr ursprüngliches Vorhaben, sich noch ein wenig im Dorf umzuschauen. Als sie am Empfang vorbeikamen, trat Bruckner gerade aus der Bürotür.
Pascal blieb stehen und sprach ihn an: „Herr Bruckner, uns ist heute im Dorf eine alte Frau begegnet, mit der wir uns unterhalten haben. Eine Frage ist indes noch offen geblieben. Daher wüssten wir gerne, wo sie wohnt. Können Sie uns vielleicht sagen, wer sie ist, wenn ich sie Ihnen beschreibe?“
„Hm“, brummte der Wirt, unfreundlich wie immer. „Ich kann es versuchen.“
Pascal beschrieb das Aussehen der Alten.
Eine Weile herrschte Schweigen, während der Wirt den Eindruck erweckte, nachzudenken. Schließlich räusperte er sich ausgiebig und mutmaßte: „Ihrer Beschreibung nach zu urteilen, kann es sich nur um die alte Zigeunerin Romana, die Kräuterhexe, handeln, aber ich …“
„Aber?“, hakten Sophie und Pascal wie aus einem Munde nach.
„Ich dachte …“
„Sie dachten …?“
„Ich dachte, sie lebt nicht mehr. Seit Ewigkeiten habe ich sie, und das können Sie mir glauben, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mich interessieren andere Leute nicht. Eine Zeit lang galt sie, so wurde jedenfalls hier im Tal verbreitet, als die älteste Frau der Welt. Man sprach davon, sie sei mindestens 150 Jahre alt, wenn nicht noch älter, was natürlich purer Unsinn ist. Sie selbst konnte keine Auskunft darüber geben, denn sie hatte schon längst vergessen, wann sie geboren worden war, behauptete sie zumindest. Immer wieder tauchte sie auf und verschwand ebenso plötzlich wieder. Wo sie wohnte, wusste niemand so genau. Allerdings hatte sie sich eine Weile in der verkommenen Kate hinter dem Berghof einquartiert. Wenn Sie mehr über sie erfahren wollen, sollten Sie Ines fragen.“
„Ines? Was hat Ines mit der Alten zu schaffen?“
„Ines ist ihre Tochter!“
„Das kann doch wohl kaum stimmen!“, stutzte Sophie. „Selbst wenn die Alte nur halb so alt ist, wie sie aussieht, kann Ines nicht ihre Tochter sein. Dann wäre sie in der Lage, alle Regeln der Natur außer Kraft zu setzen!“
„Glauben Sie doch, was Sie wollen!“, grantelte Bruckner und wandte sich grußlos von ihnen ab.
„Glauben Sie ihm?“, fragte Sophie. Ihre Verwirrung war nicht zu übersehen.
„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Sophie, wir befinden uns hier in einem Mikrokosmos, wie er sich nur in der vollkommenen Isolation hinter diesen hohen Bergmauern ausbilden konnte, eine Welt, die Fremden jeglichen Zugang verwehrt“, erklärte Pascal. „Vielleicht ist diese Romana doch nicht so alt, wie sie uns vorgekommen ist. Vielleicht ist Ines auch nur eine Ziehtochter von ihr. Gesetzt den Fall, sie hat wirklich etwas mit ihr zu tun, so besteht zumindest die vage Aussicht, mehr zu erfahren. Das will ich zumindest hoffen. Ines erweckt den Eindruck, über alles gut informiert zu sein. Und ich wette, dass sie bei dem Spiel, das hier abläuft, mitspielt.“
Sophie hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie nickte. „Wenn ich mir diese unverschämte Person genauer betrachte, hat sie unbestreitbar etwas an sich, das an Zigeuner erinnert, was ich übrigens jetzt bitte völlig wertfrei gedeutet haben möchte. Ich spreche nur von ihrem Aussehen und sage das ohne jedes Vorurteil. Im Gegenteil, ich liebe deren Musik über alles. Doch nehmen Sie sich vor Ines in Acht, Pascal! Sie ist gefährlich! Sie gehört zu den Frauen, denen ein Mann schneller verfällt, als er sich vorstellen kann, glauben Sie mir. Ich habe meine Erfahrungen.“
Sophie starrte gedankenverloren aus einem der Fenster in die dunkle Nacht und schien keine Antwort von ihm zu erwarten. Also schwieg Pascal ebenfalls. Als sie schließlich fragte: „Erinnert sie Sie nicht auch an die Carmen in der Oper von Bizet?“, gewann er das unbestimmte Gefühl, dass bei Sophies Warnungen vor den Verführungskünsten von Ines nicht nur Fürsorge,