Pierce studiert die Daten der Zielperson. Caiden tickt wohl nicht ganz richtig, was soll das denn? Eine 93 Jahre alte Frau, Unfall oder natürlicher Tod werden bevorzugt gewünscht, eine Amerikanerin mit deutschen Wurzeln aus Los Angeles. Sie reist nach Deutschland und genau dort soll sie exekutiert werden. Pierce überfliegt die biographischen Daten und betrachtet kurz das aktuelle Foto. Eine von Krankheit gezeichnete alte Frau blickt ihn an.
Ein hochrangiger Militär, ein einflussreicher Politiker oder ein superreicher Wirtschaftsboss, das alles hätte Pierce erwartet. Aber dieser Job hier? Die biologische Lösung könnte schneller greifen, als er seine Arbeit erledigt hat, und warum gerade in Deutschland?
Hamburg
Das Trägerlose und die anderen Kleidungsstücke von Lars und Britta liegen verstreut in der Wohnung. Beim genauen Betrachten zeichnen sie eine Spur in das Schlafzimmer.
„Sie hat irgendetwas mit dem Theater zu tun, soweit ich mich erinnern kann“, Lars zieht behutsam die Schlafdecke über Britta.
„Ach, du bist bei deinem Auftrag. Ich fand das Theater, das du als Hauptspeise serviert hast, einfach umwerfend, Schatz, die Kritik fällt super aus, eine Wiederholung ist erwünscht.“
„Immer gerne, ein paar Zutaten könnten wir mal versuchsweise austauschen.“
„Und das wäre?“
„Phantasiesteigernde Applikationen!“
Brittas Hand gleitet sanft unter der Decke herab, zielsuchend wird sie fündig.
„Ich nehme den Job an und fahre nach Berlin, was hältst du davon?“
„Von einem Profi habe ich nichts anderes erwartet und ein paar Tage Trennung sind durchaus appetitanregend.“
„Okay, dann schreiten wir jetzt zur Nachspeise!“
Singapur
Sein nächstes asiatisches Depot befindet sich in Südkorea, nahe der Hauptstadt Seoul. Es ist, wie alle Lagerstellen, üppig bestückt. Seit Pierce weltweit operiert, errichtete er mehrere gut versteckte Depots. Unnötige Risiken müssen vermieden werden, sie entstehen durch lange Transportwege, Grenzübertritte und eine große Konzentration von Menschen an einem Ort. Der Aufbau der Depots war mühsam und zeitintensiv. Anfänglich dachte er noch darüber nach, Bankschließfächer zu nutzen. Die Risiken schätzte er doch zu hoch ein. Er ist abhängig von Öffnungszeiten, Bankgebäude werden zudem vor der Einganstür mit Videokameras überwacht, und hin und wieder werden sie von Amateurgangstern geknackt, die sich irgendwie durch den Boden einen Zugang verschaffen. Letztlich sprachen praktische Gründe für Outdoor-Depots. Als Kunde mit einer Aktentasche rein in eine Bank und raus mit einem großen Koffer voller Waffen und Technik. Zu auffällig. Mit den Outdoor-Depots ist Pierce jetzt in der Lage, schnell und effizient zu handeln.
Die Depots sind im Wesentlichen alle mit den gleichen Arbeitsmitteln gefüllt. Diverse Handfeuerwaffen aller Kaliber, starke und durchschlagskräftige Waffen sowie Scharfschützen-gewehre der neuesten Generation. Sie ermöglichen den letalen Treffer aus gut einem Kilometer Entfernung. Verschiedene Sorten Sprengstoff in flüssiger und fester Form mit der dazugehörigen Elektronik für alle denkbaren Einsätze. Beobachtungs- und Abhörelektronik mit sensiblen Linsen und Sendern kommen bei komplizierten Kundenwünschen häufig zum Einsatz. Gifte und pharmazeutische Produkte für den direkt herbeigeführten Tod oder zur nicht nachweisbaren Überdosierung, die beim Opfer zwangsweise den Exitus nach einer bestimmten Zeit einleiten. Pässe verschiedener Nationalitäten, Bargeld und Kreditkarten gehören genauso dazu wie Mobiltelefone und reichlich SIM-Karten, die für die Einmalnutzung gedacht sind.
Genau so eine Karte plus Telefon benötigt Pierce jetzt. Eine Reise nach Seoul für eine SIM-Karte würde vom Risiko und dem Zeitverlust her in keinem Verhältnis stehen. Das Depot in Europa, das sich im deutschen Spessart befindet und für das Operationsgebiet Mitteleuropa zuständig ist, wird er ohnehin anzapfen müssen. In der Bugis Street nahe der von Touristen gern besuchten Markthalle wird er bei einem fliegenden Händler fündig und kauft eine SIM-Karte. Fragen werden hier nicht gestellt.
Hamburg
„Die Redaktion wartet, wir haben heute Schlusstag für das neue Heft und die gemeinsame Konferenz mit den Leuten von der Online-Redaktion wird wieder zeitraubend sein. Die glauben, sie seien etwas Besseres. Schatz, weißt du schon, wo du in Berlin unterkommen wirst?“
Lars sitzt noch am Frühstückstisch im Morgenmantel und blickt in den Kaffeepot, der ihm offenbar eine Lösung verraten hat.
„Ich telefoniere ein paar Kollegen ab. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn man sich unter den Chauffeuren mit Quartieren hilft. Ich habe da schon eine Idee. Vielleicht hätte ich meine Berliner Wohnung in Schöneberg doch nicht aufgeben sollen.“
„Es gefällt dir wohl hier nicht, Kerle müssen immer ein zweites Standbein irgendwo haben. Das liegt an der Jäger- und Sammler-Mentalität.“
Britta ist fertig geschminkt und streift sich die schwarze Lederjacke über.
„Müsst ihr Frauen immer alles ins Gegenteil verbiegen? Ich bin hier sehr glücklich und so soll es auch bleiben und das ist gut so. Und finanziell wäre die Wohnung ein Klotz am Bein gewesen, das ist doch völlig klar.“
„Frieden, Euer Ehren. Liebling ich muss jetzt los, in die Welt der Medien. Bitte melde dich und mache keinen Mist wie letztes Mal mit dem durchgedrehten Pharmaboss, der seine Konkurrenz einfach weggeblasen hat.“
„Klar passe ich auf, und was soll eine 93-jährige Frau schon für ein Risiko darstellen? Die wird sicher keiner umbringen wollen.“
Eine lange intensive Umarmung mit erotischen Küssen, die das Nachziehen von Brittas Lippen erforderlich machen, beendet die Diskussion.
„Wir bleiben in Verbindung, ciao bello.“
Der gewünschte Anruf bei Irma Mitteldorff in Los Angeles war kurz und knapp. Sie stecke in Reisevorbereitungen und freue sich über den Anruf von Lars Maibach. Auch könne sie sich an Lars gut erinnern, wegen seiner Stadtkenntnisse und den passenden Geschichten dazu. Das hätte sie in einer schwierigen Lebenssituation abgelenkt. Mehr Informationen zu ihrer Deutschlandreise konnte Lars ihr nicht entlocken.
New York
Das Restaurant „Per Se“ befindet sich am südlichen Rand des Central Parks. Man bekommt Zutritt über die vierte Etage im Time Warner Center, wenn man Einlass bekommt. Das „Per Se“ in New York zählt zu den besten und teuersten Adressen in der Welt, Reservierungen sind so gut wie unmöglich oder man plant für das nächste Jahr. Über ein Kartensystem des Restaurants mit entsprechenden Gegenleistungen der Gäste kann diesbezüglich einiges erleichtert werden.
Caiden ist Stammkunde im „Per Se“ und für ihn steht immer ein Tisch bereit, er zahlt dafür auch einen ordentlichen jährlichen Betrag. Die beiden Partner seiner LCSCN Consulting Group lassen sich das 300-Dollar-Menü schmecken. Hin und wieder schlürfen sie vorsichtig am Domaine Louis Carillon & Fils. Der französische Weißwein aus dem Jahre 1992 ist mit 2.200 Dollar noch lange nicht der teuerste Tropfen auf der umfangreichen Weinkarte. Obwohl ihre Partnergehälter ansehnlich sind, werden sie nicht alle Tage ins „Per Se“ eingeladen.
„Meine Herren, eine zuverlässige Quelle hat uns zugetragen, dass der US-Militärhaushalt im nächsten Jahr drastisch steigen wird. Dies ist beschlossene Sache, es sind nur noch einige Formalien zu klären. Der Kongress wird ebenfalls zustimmen. Sie wissen, was das bedeutet, wir werden diese Information vergolden und ich möchte sie ab sofort hart arbeiten sehen.“
„Wie weit können wir gegenüber den Investoren die Quelle näher identifizieren?