Die Liebesfalle. Peter Splitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Splitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748588481
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gebaut hatte.

      Dunkle Wolken zog über das Land. Sie brachten Nieselregen und Nebel mit sich. Ich zog hastig an meiner Zigarette und blies den blauen Dunst in den grauen Himmel. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu. Ich fröstelte. Allerdings weniger wegen des einsetzenden schlechten Wetters, sondern aufgrund der Erinnerungen, die mir der baufällige Koloss bescherte. Hier hatte vor langer Zeit mein Leidensweg begonnen.

      Zögernd passierte ich den versteckten Durchgang. Der Lehmboden wurde mit zunehmendem Regen glitschiger. Meine schwarzen Stiefeletten schlitterten durch den Dreck. Vor dem Eingang blieb ich stehen, sah mich vorsichtig nach allen Seiten um. Nein, hier war niemand, konnte niemand mehr sein. Das Gebäude stand einsam und Furcht einflößend vor mir. Ich überlegte, blickte unruhig die verwitterte Fassade hinauf. Etwas fehlte. Die Erinnerungen kamen langsam zurück. Neben der Eingangstür hatte sich ein auf Hochglanz poliertes Messingschild befunden. Wie von Geisterhand erschien ein Name vor meinem geistigen Auge. Ein Name, der für mich gleichbedeutend war mit Höllenqualen und Folter: Spezialkinderheim Wolfersdorf.

      Allein die Gedanken an das Wort ‚spezial‘ ließen mich erschaudern. Es war der Ausdruck für eine Behandlung, die ich jahrelang ertragen musste.

      Vorsichtig strich ich über das raue Mauerwerk. Meine Hände zitterten. Ich wunderte mich über mich selbst. Wunderte mich darüber, dass ich es nach all den Jahren geschafft hatte, an diesen Ort zurückzukehren.

      Auch wenn das Gebäude völlig verwahrlost vor mir stand, die Empfindungen und die Erinnerungen waren geblieben. Mit der Zeit hatte ich gelernt, keinerlei Emotionen nach außen zu zeigen, mir jegliche Mimik zu verkneifen. Ich hatte nicht mehr gelacht, nicht mehr geweint. Das 24-stündige Sprechverbot von damals und die absurden Strafmaßnahmen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Damals, das war auch die Zeit gewesen, bevor man mich ins Heim steckte. Als ich zusammen mit meiner Zwillingsschwester Anni aufwuchs, kurz nachdem Vater uns verlassen hatte.

      „Das Schwein hat in den Westen gemacht und uns einfach im Stich gelassen“, sagte Mutter immer dann, wenn ich sie auf Vater ansprach.

      Die einzige Existenz, die es von ihm gab, war ein Foto auf dem gebogenen Holzbrett im Wohnzimmer, das Mutter als Regal diente. Daneben lag das einzige Buch, das im ganzen Haus zu finden war. Es war ein altmodisches Buch mit dem Abbild eines großen Schmetterlings als Titelbild. Auf der zweiten Seite stand Mutters Name mit großen, geschwungenen Buchstaben geschrieben: Edelgard Böhm.

      Die Seiten waren glatt und sauber, obwohl sie so rochen wie alles andere in unserer armseligen Behausung – nach Feuchtigkeit und Desinfektionsmitteln. Letztere verwendete Mutter für die Toilette hinter dem Haus. Ich blätterte gern in dem Buch, sah mir die illustrierten Seiten an. Sie handelten von einheimischen Tieren. Von dem, was sie fraßen, wie sie ihren Unterschlupf bauten und wie sie sich paarten. Besonders das interessierte mich. So wusste ich frühzeitig über Paarung Bescheid. Sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen. Damit verdiente sich Mutter den Lebensunterhalt. Hauptsächlich nachts, wenn sie glaubte, dass niemand etwas davon mitbekam. Aber ich bekam natürlich alles mit.

      Meine früheste Kindheitserinnerung war eine Prozession von nackten, fremden Männern, die in oder aus Mutters Bett stiegen.

      Dazu erklärte sie immer: „Das sind alles deine Onkel, Mariechen. Sei nur nett und höflich zu ihnen.”

      Die Männer waren grob und stark. Sie blieben für eine Nacht, für eine Woche oder manchmal auch für einen Monat. Danach verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Kaum war einer fort, schaute sich Mutter schon nach einem neuen Liebhaber um. Fand sie einen, so kam das, was immer kam.

      Eigentlich sollte ich schlafen, in dem kleinen, kalten Hinterzimmer, während sich Mutter im vorderen Zimmer aufhielt. Das war wenigstens warm und wurde vom Licht der rosa Lampe auf dem Tisch beleuchtet. Meistens wartete sie, bis sie glaubte, wir Kinder wären eingeschlafen. Erst dann ließ sie die Männer ins Haus. Und meistens schlief ich dann auch tatsächlich, aber die Geräusche holten mich wieder zurück. Im Vergleich zu meiner Schwester hatte ich den leichteren Schlaf und die unruhigere Blase. Ich musste damals dauernd aufs Klo. Das stand für sich allein hinter dem Haus. Manchmal schaffte ich es nicht mehr bis dorthin. Und draußen war es kalt. Da machte ich lieber gleich ins Bett, auch wenn ich mir dafür Schelte und Schläge einhandelte. Bettnässen war ein auffälliges Verhalten.

      Die Haustür schlug zu. Schwere Schritte ertönten auf der schmalen, abgenutzten Treppe. Männerstimmen, Lachen. Ein Lichtspalt fiel vom Treppenabsatz auf ihr Gesicht, als Mutter auf Zehenspitzen in das Zimmer schlich und im Schrank herumkramte, um die Blechdose zu suchen, in der sie ihr Geld aufbewahrte. Sie fand die Dose, hielt sie in die Höhe, sodass ich das zerkratzte Blech glänzen sehen konnte, während Mutter den kleinen Schlüssel umdrehte und die gefalteten Banknoten wegschloss. Danach steckte sie das Blechding wieder sorgfältig unter einen Stoß alter Decken.

      Zu diesem Zeitpunkt war Mutter noch eine wirkliche Schönheit. Das exotisch wirkende Gesicht, die hohen Wangenknochen, dazu die großen, traurigen Augen, der sanfte Mund und das volle, lange blonde Haar. Allmählich jedoch begann sich das harte und unbarmherzige Leben in ihrem Gesicht widerzuspiegeln. Trotzdem war ich stolz auf sie. Wenn da bloß nicht immer die Prügel wegen des Bettnässens gewesen wären. Für die Männer war Mutter verfügbar. In Wolfersdorf eilte ihr der Ruf voraus, eine leidenschaftliche Bettgefährtin zu sein. Doch ihr Charakter veränderte sich stetig. Sie konnte ohne besonderen Grund aufbrausen und in Wutausbrüche verfallen. Ich litt zunehmend unter ihren Gemütsschwankungen. Daher flüchtete ich mich immer öfter in eine Scheinwelt, erfand neue Freunde und Spielkameraden, die mich weder hänselten noch verspotteten.

      Einmal kroch ich aus meinem Bett, schlich hinaus auf den Treppenabsatz und lauschte. Dabei stieß ich unabsichtlich mit meinem großen Zeh gegen die abgestoßene Holztür, die zu Mutters Kammer führte. Die Tür ging auf, und ich sah einen Mann ohne Kleider vor der Lampe stehen. Sein Ding stand heraus, rot und hart. Schnell legte ich eine Hand auf meinen Mund, um ein Kichern zu unterdrücken, so lächerlich sah der Mann aus. Und dann sah ich Mutter, die ebenfalls keine Kleider anhatte. Sie machte Paarung mit dem Mann, wie die Hunde auf der Gasse und die Katzen im Garten, oder auch die anderen Tiere aus dem Buch, das ich mir immer wieder anschaute.

      Mein Bettnässen wurde langsam zu einem ernsten Problem. Immer öfter geriet ich deswegen mit Mutter in einen heftigen Streit.

      „Ich steck dich in ein Heim, wenn das so weitergeht“, bekam ich zu hören. „Du bist doch bald ein großes Mädchen. Sieh nur zu, dass du dich auch dementsprechend benimmst.“

      Aber ich wollte mich nicht benehmen, sah keine Notwendigkeit. Und dann kam der Tag, der mein noch so junges Leben von einem Augenblick zum anderen verändern sollte. Der Tag, an dem Mutter beschloss, mich in ein Heim zu stecken.

      Er begann trüb und grau. Mutter kam in mein Zimmer, packte ein paar meiner Anziehsachen in einen alten Koffer und holte mich aus meinem Bett. In diesem Moment erstarrte ich zu Eis, alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, während ich verzweifelt einzuordnen versuchte, was mit mir geschah. Frühstück bekam ich keins, ich wurde direkt zu dem Wagen des Nachbarn gebracht. Ich wusste immer noch nicht, wie mir geschah. Auf einmal saß ich in dem Wartburg von Herrn Schulze, wollte die Tür öffnen und Mutter fragen, ob es wirklich angehen konnte, dass sie mit ihrer Drohung ernst machte. Und tatsächlich drückte ich noch den Hebel nach unten und versuchte, die Wagentür zu öffnen, nur um ihr diese eine Frage zu stellen. Doch Mutter war nicht mehr da, und der Wartburg fuhr los.

      Ich zögerte, hineinzugehen, blickte mich nach allen Seiten um. Erst, als ich mir vollkommen sicher war, dass hier niemand herumirrte, drückte ich meinen Arm gegen die schief hängende Tür. Sie gab sofort nach, ließ sich einen Spaltbreit öffnen. Das genügte mir, um hindurch zu schlüpfen. Dabei hielt ich inne. Die Erinnerungen an damals waren übermächtig.

       August 1968

      Das große Tor öffnete sich,