Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an. Dort musste ich aussteigen.
Teils mit Schrecken, teils mit Erleichterung sah ich, dass der Sohn des merkwürdigen Mannes ebenfalls aufstand und den anderen zum Abschied zuwinkte.
„Du, Oliver, ich habe was für dich“, begann ich zögernd, während wir am Ausstieg warteten.
Misstrauisch sah er mich an. „Woher weißt du, wie ich heiße?“
„Dein Vater hat es mir gesagt.“
Oliver riss die Augen auf.
Die Türen öffneten sich mit einem schmatzenden Laut.
„Alles klar, Olli?“, grölten seine Freunde.
Er warf mir einen abschätzenden Blick zu. „Jepp.“
Wir sprangen die Stufen hinunter. „Und was hast du für mich?“, fragte er.
Der Bus blinkte und zog vom Bordstein weg.
Ich hielt Oliver den Siegelring hin.
Er nahm das Schmuckstück, trat unter eine Straßenlaterne und betrachtete es. „Das ist ja das Wappen unserer Familie!“, rief er aus. „Woher hast du den Ring?“
„Dein Vater hat ihn mir gegeben.“
Oliver wich ein paar Schritte zurück. „Wann?“
„Gerade eben, im Bus.“
Er ließ sich auf die Bank im Wartehäuschen fallen und ich setzte mich neben ihn. Stumm starrte er auf den Ring.
„Was ist los?“, fragte ich beunruhigt.
Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen begann: „Dieser Ring wird in unserer Familie von Generation zu Generation vererbt. Der Vater gibt ihn an seinen ältesten Sohn weiter, und zwar an dessen 21. Geburtstag.“ Er stockte.
„Du bist also 21 geworden?“, hakte ich nach.
„Ja. Gestern.“
Oliver schluckte ein paar Mal, dann fuhr er fort: „Mein Vater wollte nie, dass ich den Ring bekomme. Er sagte, ich wäre nicht würdig, ihn zu tragen.“
Unwillkürlich ließ ich meinen Blick zu seiner Frisur wandern.
„Du hast es erfasst“, fuhr er mit rauer Stimme fort. „Stacheln statt Kurzhaarschnitt, mit Kumpeln um die Häuser ziehen statt auf Familie zu machen, Motorräder und Feten statt Abi ... Mein Vater konnte sich nie damit abfinden. “
„Immerhin hat er es sich jetzt anders überlegt“, warf ich ein.
Oliver schüttelte den Kopf. „Es kann nicht derselbe Ring sein.“ Er nagte an seiner Unterlippe. „Mein Vater ist nämlich tot. Er hatte Krebs. Vor ein paar Wochen haben wir ihn beerdigt. Mit seinem Siegelring.“
Der Schreck, der mich durchfuhr, war eisig. Ich konnte kaum weitersprechen. „Ich ... muss dich was fragen“, stammelte ich. „Es klingt makaber – aber ... weißt du, was dein Vater anhat? Im Sarg, meine ich.“
Eine Träne lief Olivers Wange hinunter. Hastig wischte er sie fort. „Ja, das weiß ich“, antwortete er heiser. „Ich habe das Zeug selbst zum Beerdigungsinstitut gebracht. Einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte.“
„Eine silbergraue?“
Er nickte. „Immer korrekt, wie du siehst, bis zum bitteren Ende.“
Jetzt war ich mir sicher. „Diesen Ring hat mir dein Vater für dich gegeben“, erklärte ich mit fester Stimme.
Fast zärtlich strich Oliver mit dem Zeigefinger über das Wappen. Dann streifte er den Ring über.
„Danke“, sagte er und stand auf.
„Mach’s gut!“, rief ich ihm nach.
„Du auch.“ Damit verschwand er in der Dunkelheit.
***
Ich bin Oliver niemals wieder begegnet.
Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden ist. Hat er einen Lebensweg eingeschlagen, mit dem sein Vater einverstanden wäre? Oder wäre sein Vater mit jedem Lebensweg einverstanden, den sein Sohn gewählt hat?
Ich werde es wohl nie erfahren.
Herrin im Haus
Ich schloss auf und trat ein. Der durchdringende Geruch ihres Parfüms hing noch in der Luft. In der Küche hörte ich ein Klirren.
„Vater?“, rief ich in die Dunkelheit.
Aber er war noch unterwegs. Ich musste mir das Geräusch eingebildet haben.
Als ich die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, glaubte ich am Rande meines Blickfeldes eine huschende Bewegung wahrzunehmen. Rechts, wo ihr Sessel stand.
Schnell machte ich Licht.
Natürlich war da nichts! Wie sollte es auch? Schließlich starb sie heute Mittag.
Ich setzte mich aufs Sofa und schlug die Zeitung auf. Gerade wollte ich anfangen zu lesen, als ich hochschreckte. Dieses leise Klacken! Wie wenn sie die Bügel ihrer Brille zusammenklappte.
Ich sah zu dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel hinüber. Die Lesebrille lag ordentlich da, so wie Mutter sie immer dort ablegte.
Im gleichen Augenblick kam Vater nach Hause. Endlich! Zum Glück hielt er sich gut, sogar besser, als ich erwartet hatte. Ich wollte ihm die Identifizierung der Leiche abnehmen, aber hatte darauf bestanden, selbst hinzugehen.
Ich lief zu ihm hin, warf meine Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss.
Er ließ sich von mir zum Sofa führen. Wir setzten uns und ich schmiegte mich an ihn.
„Sie sind sich noch nicht sicher, wie es passiert ist“, erzählte er.
Ich streichelte sein Gesicht.
„Die Bremsen waren jedenfalls in Ordnung.“
„Aber die Straße ist sehr kurvenreich“, warf ich ein. „Ein Augenblick der Unachtsamkeit – und schon ist es geschehen.“
Er blickte mir direkt in die Augen. „Sie haben da was gefunden, an ihrer Schläfe.“
Ein lautes Scheppern draußen ließ uns zusammenfahren. Wir rannten zur Terrassentür. Auf den Fliesen lagen Scherben. Trotz der Windstille musste ein Glas Cola vom Tisch gefallen sein. In der Lache auf dem Boden schwamm eine tote Wespe.
Wir schauten uns an. Vaters linke Augenbraue zuckte, wie immer, wenn er beunruhigt war.
Ich tätschelte seinen Arm. „Das haben wir gleich“, sagte ich und begann die Scherben einzusammeln.
„Vorsicht, mein Liebling“, warnte er mich, „lass mich das lieber machen. Ich möchte nicht, dass du dich verletzt.“
Der Gute! Ich lächelte zu ihm auf. Er war immer so besorgt um mich!
„Ich schaff das schon“, erwiderte ich.
Er schaute mich nachdenklich an. „Wieso stand eigentlich ein Glas auf dem Tisch?“, fragte er. „War es deins?“
Er sollte sich keine Gedanken machen. Ich wollte nicht, dass er sich quälte. „Sicher hat Mutter es dort stehen lassen“, antwortete ich.“
„Nie im Leben! Sie hat immer alles sofort weggeräumt.“
Das stimmte. Ihr Sinn für Ordnung, Sitte und Anstand war für uns sehr belastend gewesen. Ständig hatte sie uns damit in den Ohren gelegen.
„Wenn es nicht Mutters Glas war, muss es deins gewesen sein“, stellte ich fest.
„Nein. Bestimmt nicht.“
Langsam wurde es mir zu viel. „Keine Ahnung, woher das verdammte Colaglas kommt“, erwiderte ich unwirsch.