Der Geist der Djukoffbrücke. Carsten Wolff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Wolff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738068016
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war.

      Erst mit der großen Umwälzung der Revolution im Jahre 1917 wurde das Land erdbebengleich mit einer solchen Kraft durchgeschüttelt, dass selbst keine Nervenzelle der Menschen unerreicht blieb. Die Tradition und Konstanz der Gesellschaft wurden mit einem Schlag weggefegt. Nichts galt mehr. Was oben war, war unten; was unten war, war oben! Köpfe rollten zuhauf. Wer klug war, versuchte sich entweder zu arrangieren oder zu fliehen. Das Erstere erwies sich schnell als unvernünftig und Trugschluss und kostete zumeist das Leben. Auch die Riechmanns wurden von dieser Welle der Wut überspült und flüchteten in sämtliche Richtungen des europäischen Auslands. Nur wenige, wie der Teil von Lubas Familie, verblieben in dem neuen Russland, der Sowjetunion.

      Kapitel 3 - Die merkwürdige Bekanntschaft: Arik Milius

       Und ich sah die Toten, groß und klein, stehen vor dem Thron,

       und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde

       aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten

       wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben

       steht, nach ihren Werken. ... Und wenn jemand nicht gefunden

       wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde

       geworfen in den feurigen Pfuhl. (Offenbarung 20,12.15) Aber die Gottesfürchtigen trösten sich untereinander: Der

       HERR merkt und hört es, und es wird vor ihm ein Gedenkbuch

       geschrieben für die, welche den HERRN fürchten und an

       seinen Namen gedenken.( Maleachi 3,16)

      Vor ein paar Tagen hat mich eine telefonische Einladung von einem sehr guten Freund Helmut, der seinen 50 zigsten feiern will, erreicht. Er meinte zu mir am Telefon, das sei dringend notwendig, denn damit sei seine sogenannte Midlife-Krise beendet. Ich habe mich nur kurz geräuspert und sagte:

      »Mein Freund, wenn du das glaubst, täuscht du dich gewaltig!«, und ich lachte laut auf.

      »Ja, ja! Du wieder. Du raubst einem noch den letzten Glauben an das Verflossene und Kommende!«, antwortete er mir etwas sehr wehmütig in der Stimme. Und er fuhr fort:

      »Das Jung sein habe ich zur Genüge ausgekostet. Dann vor etwa zehn Jahren hat mich der Hammer mit Zweifeln erwischt. Doch nun habe ich wieder neue Lebenslust angesammelt. Und das will ich auskosten und ausgiebig mit euch feiern!«

      »Sag mal, hast du eine neue und viel jüngere Freundin?«, fragte ich zurück.

      »Ne, ne, lass mich damit in Ruhe!«

      »Dann bin ich beruhigt. Denn diese Situation hätte mir doch Kopfzerbrechen bereitet. Aber lass mich noch etwas sagen. Ein römischer Kaiser soll einmal gesagt haben: „Jung sein bedeute so viel wie den Sieg der Abenteuerlust über den Hang zur Bequemlichkeit“. Das meinst du wohl mit deiner Äußerung. Und weiter soll er gesagt haben: „Alt sein bedeute nicht, viele Jahre gelebt zu haben. Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt“. Dazu kannst du vielleicht einmal meine 91 jährige Freundin befragen, was sie fühlt!«, reagiere ich schmunzelnd.

      »Du wieder mit deiner Philosophie! Aber da ist wohl was dran, was der Römer gesagt hat. Übrigens kannst du das auf meiner Feier mit einem jungen Mann besprechen, der hält auch immer solche Sprüche parat. Den kennst du noch nicht. Der heißt Arik und studiert Slawistik und Philosophie. Aber eins sage ich dir: Wenn ihr gemeinsam nur lahm in der Ecke sitzt und palavert, mische ich euch beide auf. Haha! Bis später!«

      »Bis gleich!«

      Ein paar Tage später. Natürlich habe ich mir eine kleine Gemeinheit ausgedacht. Zu einem Buchgeschenk stecke ich Helmut einen großen Blumenstrauß in die Hand. Jede weiße Rose ziert ein Babyschnuller: fünfzig Rosen und fünfzig Schnuller als Symbol seiner neu gewonnenen Kraft. Erst stutzt er, lacht dann laut auf.

      »So etwas kann man nur von dir erwarten!«, so begrüßt er mich und umarmt mich herzlich.

      »Komm rein! Schön, dass du gekommen bist!«

      Und ich muss sagen: Respekt! Aus seinem Partykeller seines Hauses ballert die Musik heraus und die vielen Gäste quatschen in einer Lautstärke, als wollten sie die Musik noch übertönen. Und obgleich ich nicht so ein Feierbiest bin, schon aufgrund meiner zusammengeflickten Knochen, die sofort einzeln ins Schwingen geraten wollen, hat mein Freund wirklich nicht übertrieben. Ja, Triebe sind wohl das Stichwort in dieser Situation. Also Schreien ist heute angesagt, sage ich zu mir. Warum eigentlich nicht?

      Die meisten der Gäste kenne ich, schließlich sind Helmut und ich seit der Schulzeit befreundet. Er ist sozusagen mein „Chef“, denn er versorgt mich seit meinem Unfall mit speziellen Fällen aus seiner Versicherungstätigkeit. Er ist wirklich ein Klassetyp und hat mir finanziell damit sehr geholfen. Also, ich denke, auch ohne ihn wäre ich wieder ganz gut auf die Beine gekommen, nur eben nicht so schnell. Und während wir vielen uns noch begrüßen und herzen, entdecke ich einen jungen Mann ruhig und unbeteiligt an der hinteren Ecke des Bartresens allein sitzen. Ein wenig verloren und einsam wirkend zugleich. Arik, so nannte mein Freund diesen neuen Bekannten von ihm neulich? Ich nicke ihm zu, worauf er ein kurzes Lächeln zurückschickt, welches auch schnell wieder einfriert. Irgendwann später geselle ich mich zu ihm, nachdem Helmut uns bekannt gemacht hat.

      »Ich jobbe ab und zu für Helmut«, so sagt er, »und besuche bei uns im Raum Göttingen Kunden von ihm. Helmut hat vor ein paar Wochen eine Stellungsanzeige im Studentenportal ausgeschrieben. Ich habe mich gemeldet und er hat mir sofort zugesagt.«

      »Das kenne ich gar nicht an ihm? Schnelle Entscheidungen? Es muss wohl an seiner wiedererlangten Dynamik liegen!«, antworte ich ein wenig spöttisch und so laut, dass Helmut es mitbekommt.

      »Torben, deine doppeldeutigen Andeutungen kenne ich bereits seit vielen Jahren. Arik ist ein Meister darin. Das wirst du noch mitbekommen. Und die Antwort auf deine Frage nach dem „Warum“ ich ihn ausgewählt habe, lautet: Er besitzt die längsten Beine, die man sich vorstellen kann!«

      Und in der Tat scheint es so zu sein. Dieser junge Mann ist spindeldürr und besitzt Beine, die in den Boden zu reichen scheinen. Er ist sicherlich 1,95 Meter groß und ich schätze ihn auf höchstens 75 Kilo ein (während des Gesprächs stellt sich heraus, dass ich nur wenig danebenliege: 1,98 Meter und 80 Kilo).

      »Helmut, benötigtest du einen Wanderer oder jemanden für deine Versicherungsfälle?«, hake ich ironisch nach, worauf der gut gelaunte schlagfertig antwortet:

      »Nein, mein Bester. Ich suchte jemanden für Sterbefälle. Als ich Arik damals das erste Mal gesehen habe, dachte ich sofort an den Tod. So stelle ich mir den dunklen Gesellen vor, der uns irgendwann, vermutlich zu einer unpassenden Zeit, abholen kommt!«, und sofort bricht er in ein schallendes Gelächter aus und steckt damit die Umgebung mit an.

      Ich bin leicht irritiert, denn so morbide kenne ich eigentlich meinen langjährigen Freund Helmut gar nicht. Und genau in diesem Moment tritt ein Gast hinzu, der die Lampe zwischen ihm und Arik nur für einen Augenblick verdeckt, sodass das Gesicht des jungen Mannes in den Schatten fällt und dieses noch dunkler als eben zuvor erscheinen lässt.

      Bis auf diesen Vorfall, die meisten haben es vermutlich nicht mitbekommen, entwickelt sich der Abend sehr angenehm. Helmut ist bestens amüsiert. Es wird gequatscht, gelacht, getanzt und auch geschwitzt, was die Körper und Beine hergeben, was mich allerdings zu einem Zuschauer degradiert, obwohl mein besseres Bein immer wieder in den Takt mit einfällt.

      Später am Abend fährt die Lautstärke langsam zurück und die Runde rückt viel näher zusammen. Es werden nach und nach Geschichten aus der langen Bekanntschaft hervorgeholt. Jeder trägt dazu bei. Darunter befinden sich Erlebnisse, an die ich mich teilweise gar nicht mehr erinnern konnte: Aus der Schulzeit, dem