Ein wenig verdruckst hatte Ani Amenhotep gefragt, ob denn Merit-amun mit ihm kommen könne. „Selbstverständlich“, rief der Gottessohn erstaunt. „Keiner von uns wird ohne seine Diener fahren. Sie kommen allesamt mit.“
Ani guckte dumm. „Ist denn Pharaos Barke groß genug, um sie alle aufzunehmen?“
„Natürlich nicht!“, schüttelte Amenhotep den Kopf. „Wo denkst du hin! Sie werden auf einem eigenen Schiff reisen. Ebenso wie der gesamte Hausrat, den die Damen so mit sich zu führen pflegen. Allein meine Großmutter nimmt schon ihre sechs Dienerinnen mit, ganz zu schweigen von Pharaos Gefolge, das bald in die Dutzende geht. Und nicht Mutnejdmets Zwerg zu vergessen, der natürlich ebenfalls dabei sein muss.“
Es war in der Tat der Umzug einer kleinen Stadt, der sich mit aufgeregtem Geschnatter und Gepolter in den heiligen Hallen des Palastes ankündigte. Körbe mit edlen Gewändern und den unterschiedlichsten Perücken wurden durch endlose Flure geschleppt und auf eines der beiden Begleitschiffe verfrachtet. Feinstes Leinen wurde in riesigen Ballen an Bord gebracht, als gälte es, eine Armee auszurüsten. Und allein die Schminkutensilien nahmen mehr Raum ein, als die Hütte einer fünfköpfigen Familie in Anis Heimatdorf.
Ani konnte beobachten, wie die Dienerinnen schon im Morgengrauen auf dem Schiff erschienen, um auch ja jedem angelieferten Teil den ihm zugedachten Platz zuweisen zu können. Denn sollte etwa Pharao im Laufe der Reise mitten auf dem Nil Appetit auf die köstlichen Datteln aus Dahschur verspüren, so wäre die Oberste seiner Dienerinnen dafür verantwortlich, sie augenblicklich zu finden, um sie Seiner Majestät servieren zu lassen. Jede der Hauptdienerinnen verteidigte somit den ihr zugeteilten Stauraum mit Klauen und Zähnen. Ani hatte Amenhoteps ansonsten so liebevolle Amme Subira beobachten können, wie sie Mutnedjmets Zofe mehrfach auf den Hinterkopf schlug. Und mit Erstaunen musste er zusehen, wie seine zärtliche Merit-amun eine ganz andere Seite von sich offenbarte, die er bislang noch nicht kennen gelernt hatte. Wie die Wächterschlange Wadjet, die jeden unbotmäßigen Eindringling mit ihrem Gift tötete, so fauchte, fuchtelte, drohte und zischte sie, wenn jemand dem von ihr beanspruchten Stauraum zu nahe kam. Zunächst war Ani amüsiert. Doch dann wurde ihm klar, dass sie ohne diese Eigenschaft ihre armselige Kindheit wohl kaum überlebt hätte. Außerdem konnte er sich sehr wohl vorstellen, wie es in der Dienerschule des Harems zugegangen war, die sie durchlaufen hatte. Das Schreien und Zetern, das er oft genug von dort gehört hatte, sprachen ihre eigene Sprache.
Endlich war der Abreisetag gekommen. Schon Tags zuvor hatte das Boot der königlichen Zelte abgelegt, damit es rechtzeitig an der nächsten Übernachtungsstelle ankäme, um dort für den Guten Gott und sein Gefolge bereits die Zeltstadt zu errichten. Pharao war bester Laune, freute er sich doch darauf, wenigstens für die Dauer der Hin- und Rückreise den banalsten Alltagspflichten entkommen zu können. Er sang in seiner Sänfte lustig vor sich hin, als er zum abfahrtbereiten Glanz des Aton getragen wurde und reichte Teje immer wieder die Hand, die ihn zum Abschied noch bis zur Barke begleitete. Die Menschen waren glücklich ‑ manchen von ihnen standen sogar Tränen der Rührung in den Augen ‑, ihren Pharao seiner Großen königlichen Gemahlin derart in Liebe zugetan zu sehen. Freilich Ani hatte die beiden schon oft Zärtlichkeiten austauschen sehen - allerdings nur in privater Atmosphäre – so dass er keinerlei Zweifel an ihrer aufrichtigen Zuneigung hegte. Dabei war Pharao alles andere als ein Asket. Der Harem wurde von ihm gern und oft besucht. Und dennoch war er Teje auf eine fast kindliche Art und Weise treu, die Ani oft berührte. Sie hatten einander ihre Herzen geschenkt, ja, ihr Leben. Und seither passten sie gegenseitig darauf auf, dass niemand den anderen verletzen würde. Dies alles, Amenhotep hatte Ani in einer langen Nacht davon erzählt, hatte in Achmim seinen Anfang genommen. Es war die Heimatstadt von Amenhoteps Großmutter Mutemwia, die eine Nebenfrau des vorigen Pharaos war. Der hatte mit seiner Großen königlichen Gemahlin Jaret ebenfalls einen Sohn, der später sein Nachfolger werden sollte. Seine Nebenfrau Mutemwia verbrachte also mit ihrem nicht weiter beachteten Sohn jeden nur möglichen Tag in Achmim. Der freundete sich dort mit der etwa gleich alten Tochter des Bruders seiner Mutter an: Teje, die Tochter des Juja. Als Pharao acht Jahre alt wurde, starb sein Halbbruder, der Thronfolger. Von heute auf morgen musste er Achmim verlassen und an den Hof zurückkehren. Dort begann ein vollkommen neues Leben für ihn. Keine vier Jahre später starb sein Vater überraschend und der Zwölfjährige wurde zum Pharao gekrönt. Die erste Verfügung überhaupt, die er erließ, war die Beorderung Tejes nach Waset. Drei Monate später heiratete er sie gegen alle Widerstände - war sie doch nicht königlichen Geblüts. Stolz und trotzig hatte er dies alle Welt auf einem Gedenkskarabäus wissen lassen, den er anlässlich seiner Hochzeit bis in die hinterste Ecke seines Reiches verteilen ließ. Juja, der ebenso loyal war wie seine Tochter, wurde ebenfalls nach Waset geholt, wo er schnell Karriere machte und einer der höchsten Beamten an Pharaos Hof wurde. Und noch immer, nach all den langen Jahren, überlegte Ani, waren die beiden einander in aufrichtiger Liebe und tiefer Hochachtung zugetan. Sie waren wie Schu und Tefnut: Eine Einheit in zwei unterschiedlichen Körpern.
Ani meinte gar, Tränen in Pharaos und Tejes Augen gesehen zu haben, als sie sich schließlich herzlich voneinander verabschiedeten. „Komm mir nur gesund wieder“, flüsterte Teje, „und pass auf Dich auf!“ Hilflos versuchte Ani anderswo hinzusehen, fühlte er sich doch wie ein Eindringling, der Dinge sah und hörte, die eigentlich nicht für seine Augen und Ohren bestimmt waren. Als Pharaos Sänfte auf der Barke unter dem Baldachin abgestellt worden war, stellte sich Ani rechts hinter seinen Herrn. „Ach, der Bauernbub“, lachte ihm Pharao ins Gesicht.
Irgendwann einmal, sie hatten den Nil noch nicht erreicht, meinte Pharao augenzwinkernd zu Ani, es sei nun genug mit dem Herumstehen, um den Wedel über ihn zu halten. Der Baldachin auf der Barke spende Schatten genug und so heiß, sei es auch wieder nicht, als dass ihm ständig Luft zugefächelt werden müsse. Ani solle sich lieber Amenhotep zur Verfügung halten, falls der ihn benötigte. Und als er ging, konnte er gerade noch hören, wie Pharao zu der neben ihm thronenden Mutemwia sagte: „Ach, Mütterchen! Wie ist das schön, noch einmal mit dir nach Achmim zu fahren. Wie damals, als Amt und Bürden noch weit entfernt und wir beide frei waren wie die Kraniche. Kein Ort ist mir so lieb in meinem ganzen Reich.“
Amenhotep saß mit seinem Bruder und Nofretete zusammen. Ihre ernsten Mienen verrieten Ani, dass sie Wichtiges zu besprechen hatten. „Unsere ganze Gesellschaft ist verlogen“, schimpfte Amenhotep. „Wer glaubt noch an den Humbug von lebendig gewordenen Statuen aus Stein? Wer vertraut noch den Priestern, die für die Menschen zu den Göttern sprechen, je nach Höhe des Entgelts? Wer heiratet noch, weil er so, wie er behauptet, den anderen liebt? Nichts geschieht mehr, weil es richtig ist, sondern nur noch, damit es nütze.“
„Wir sind da keine Ausnahme“, unterbrach ihn Thutmosis. „Wir spielen sogar tüchtig mit.“
„Ja!“, Amenhotep war aufgebracht. „Und das solltest Du ändern, Thutmosis! Ein paar Jahre noch – es möge sein in einer Million mal eine Millionen Jahren, aber es wird sein ‑, irgendwann einmal bist du Pharao. Du kannst dann die Welt verändern, wenn du nur willst. Es liegt in deiner Macht, das Böse und Schlechte abzuschaffen!“
„Du übertreibst, Bruder.“ Thutmosis lächelte. „Das Böse abzuschaffen überfordert sogar die Macht Pharaos. Tragen wir alle doch das Böse in uns. Wir lügen, wenn es hilfreich ist, wir lächeln, wenn wir eigentlich hassen, ja, und wir töten, selbst was wir lieben.“ Unwillkürlich schaute Ani nach dem prächtigen Katzensarkophag, der in Men-nefer beigesetzt werden sollte und der im Bug festgezurrt war.
„Aber du kannst doch nicht einfach nur mit den Schultern zucken“, warf Amenhotep