„Ich bin erschüttert“, sagte Mutemwia nachdem sie in ihrer Sänfte Platz genommen hatte. „Ich fürchte, ich werde heute Nacht kein Auge zutun. Pharao wird morgen eine Entscheidung treffen müssen, denn der Mord an einer Katze außerhalb eines Tempels gilt als Kapitalverbrechen! Und wie er schließlich die Göttin Bastet besänftigen möchte, wage ich mich gar nicht zu fragen. Ach mein Liebling“, meinte sie zum Abschied zu Amenhotep, „ich hoffe nur, dass dein Bruder uns nicht alle noch ins Unglück stürzen wird. Er macht mir manchmal Angst.“ Und mit diesen Worten verschwand sie auf ihrem Tragstuhl in den Fluren des Palastes.
Mit gesenktem Kopf ging Ani neben Amenhoteps Sänfte her. „Nun kennst du sie ein bisschen besser, meine ehrenwerte Familie“, sagte Amenhotep tonlos. „Dass dieser Tag aber auch so enden musste …“
Kaum waren sie vor seiner Wohnung angelangt, sprang Amenhotep aus seiner Sänfte und schickte die Träger fort. Noch hatte er die Türe nicht vollständig geöffnet, als Subira ihn schon in die Arme nahm. „Mein armer Junge“, sagte sie sanft, „Was für schreckliche Dinge doch geschehen.“
„Ach“, entgegnete Amenhotep. „Es hat sich also schon herumgesprochen.“ Und zu Ani gewandt meinte er: „Du siehst, nirgendwo verbreiten sich Neuigkeiten so schnell wie im königlichen Palast. Mein Vater wird sicherlich noch heute Nacht von den Vorgängen erfahren. Und dann kann ich nur für Thutmosis hoffen, dass er seinem König und Vater nicht allzu bald unter die Augen kommt. Lass uns schlafen gehen, Ani. Es war ein langer Tag und du wirst mindestens ebenso müde sein wie ich. Was du heute alles, an diesem einen Tag erlebt hast, erleben andere Menschen nicht in ihrer ganzen Lebenszeit.“ Amenhotep legte Ani die Hand auf die Schulter. „Schlaf gut jetzt. Morgen früh werde ich dich holen lassen, damit wir dann gemeinsam in den Unterricht gehen können, wie mein Vater es angeordnet hat.“ Mit müden Augen blinzelte er Ani an, nickte ihm zum Abschied zu und verschwand in seinem Schlafgemach.
Als Ani die ihm zugewiesene kleine Wohnung betrat, sah er, dass Merit-amun auf ihn gewartet hatte. „Was? Du schläfst noch nicht?“, fragte er erstaunt.
„Es geziemt sich nicht, für eine Dienerin zu schlafen, solange ihr Herr noch wach ist“, sagte Merit-amun mit sanfter Stimme und befreite Ani von seinem Schmuckkragen. „Wünschst du noch ein Glas Sauermilch?“
„Wasser, nur noch ein wenig Wasser für die Nacht“, entgegnete er geistesabwesend, genoss er doch das nie gekannte Gefühl, dass jemand auf ihn gewartet hatte. Auch, wenn es nur eine Dienerin war.
Malqata: Glanz des Aton, Haus des Jubels
Es war noch früh am Morgen als Ani erwachte, kaum hatte sich der erste, sanfte Schimmer des Aton gezeigt. Eine Amsel hatte sich in Pharaos Garten ihr Revier eingerichtet und tirilierte ihre Freude am Leben in die sterbende Nacht. Ani meinte, zugleich auch einen Hauch von Wehmut zu hören, mit dem sie dem Zuendegehenden ihr Abschiedslied sang. Auch einige Spatzen hatten in den dichten Hecken reichlich Gelegenheit gefunden, um ihre Nester zu bauen. Sie zwitscherten aufgeregt in Erwartung des neuen Tages und tobten ausgelassen durchs dichte Blattwerk, das ihnen die Schönheitsliebe Pharaos geschenkt hatte.
Siebzig Tage lebte er nun schon hier im Palast des Guten Gottes und Ani fragte sich, wo all die Tage geblieben waren. Schien es ihm doch so, als sei es gestern erst gewesen, als er zum ersten Mal die Wunder des Palastes mit offenem Mund bestaunt hatte. Wenn er allerdings darüber nachdachte, was alles in jenen siebzig Tagen geschehen war, was er gelernt und erfahren hatte, was ihm alles, anfangs neu und ungewohnt, inzwischen wohlvertraut geworden war, dann mochte er kaum glauben, dass es nur jene überschaubare Anzahl an Tagen war, die sein neues Leben bislang gedauerte hat.
Es war noch frisch, ja, kühl, so früh am Morgen. Also warf sich Ani den bunten Mantel aus Wolle über, den ihm die Große Königliche Gemahlin Teje vor Wochen hatte schenken lassen, nachdem sie ihn eines Abends fröstelnd auf ihrer Terrasse erlebt hatte. Das fremdartige Kleidungsstück kam aus dem fernen Hattuscha, wo sich gerade, wie man berichtete, ein neuer König an die Macht putschte. Ein Ort mehr auf der Welt also, den es galt, nicht aus den Augen zu verlieren.
Ani war ein wenig bang gewesen vor diesem Tag, denn heute würde er seinen einbalsamierten Vater in einem prächtigen Mumiensarg abholen, den die königlichen Werkstätten nach seinen Anweisungen ausgeführt hatten. Er würde die Mundöffnungszeremonie an ihm vollziehen und ihn schließlich in einem Felsengrab bestatten, das ein in Ungnade gefallener Beamter des Königs nach seiner Verbannung zurückgelassen hatte. Glücklicherweise war in letzter Zeit kein Mitglied der königlichen Familie oder des Harems verstorben, so dass die Handwerker Zeit und Muße hatten, Anis Bestellung auch auszuführen. Lediglich der Auftrag des Kronprinzen Thutmosis für einen Katzensarkophag hatte Vorrang.
Gleich am zweiten Tag, den er in der Residenz des Guten Gottes verbringen durfte, hatte ihn Amenhotep zu Sobekmose geführt, dem Schatzmeister und Hüter der Truhen Pharaos. Amenhotep ließ Ani drei Armreifen aus massivem Gold und drei ebensolche Ringe mit dem Namen des Guten Gottes anlegen, damit er, wie Amenhotep zwinkernd anmerkte, auch immer schön „flüssig“ sei. Ani war zunächst ganz verstört, mit diesem für alle sichtbaren Reichtum herumlaufen zu sollen. Doch wie sein Freund ihm prophezeit hatte, der während all der Tage nicht müde geworden war, seine Vorhersage ständig zu wiederholen: Er hatte sich schnell daran gewöhnt. Und nicht nur daran.
Ani musste lächeln, als er sich erinnerte, wie er, nicht um den Preis seines Auftrags wissend, dem Vorsteher der königlichen Fayencewerkstätten einen jener Armreife gab. Sollte er doch dafür so viele blau glasierte Uschebtis für seinen verstorbenen Vater fertigen wie nur irgend möglich. Mit seinem Vater im Felsengrab bestattet, würden sie ihm wenigstens im Jenseits die harte Landarbeit abnehmen. Als vor etlichen Tagen an der Tür zu Amenhoteps Wohnung geklopft wurde und Subira öffnete, hallte ihr Entsetzensschrei durch den ganzen Palast. Hunderte und Aberhunderte von blauen Uschebtis waren in mindestens einem Dutzend Kisten angeliefert und vor Amenhoteps Tür abgestellt worden. Amenhotep war derart belustigt darüber, dass er die Geschichte immer wieder erzählte, so dass inzwischen jedermann im Palast wusste, dass Anis Vater der faulste Verstorbene von ganz Ägypten war: Bis in alle Ewigkeit würde er keinen Handschlag mehr tun müssen, standen doch genügend Uschebtis bereit, um ihm jede nur denkbare Arbeit abzunehmen. Zunächst war es Ani fürchterlich peinlich gewesen, aber mittlerweile freute er sich einfach nur, dass er seinem Vater wenigstens im Jenseits ein bequemes Fortleben ermöglichen konnte.
Was hatte er nicht alles lernen müssen! Manchen Abend war Ani regelrecht verzweifelt, weil er gar nicht mehr wusste, wo er überhaupt noch Platz in seinem Kopf finden sollte, um all die Dinge zu verstauen, die es dort unterzubringen galt. Am meisten hatte er sich über seine rechte Hand geärgert. Wie oft hatte er ihr angedroht, sie abzuschlagen, weil sie einfach seinen Befehlen nicht gehorchte und statt heiliger Hieroglyphen ein übles Gekrakel auf den Papyrus schmierte. Glücklicherweise kam er mit der hieratischen Schrift sehr viel besser zurecht, machte aber immer noch viele Fehler, die Amenhotep nicht müde wurde, zu verbessern. Der vom Guten Gott angeordnete Unterricht über die Rechte und Pflichten des Pharao war schnell zu Anis Lieblingsfach geworden. Sicherlich, so musste er sich eingestehen, hatte es auch daran gelegen, dass neben Thutmosis und Amenhotep auch Nofretete auf eigenen Wunsch daran teilnahm. Wie sehr bewunderte er dieses Mädchen, das nicht nur schön, sondern auch noch ausnehmend klug war. Dabei war sie so natürlich, so unaffektiert und ohne jeden Dünkel, dass sie schnell zu einer richtigen Freundin geworden war. Selbst Mentuhotep, der Lehrer, ließ sich mehr als einmal zu der Bemerkung hinreißen, dass man sich keinerlei Sorgen um die Zukunft Ägyptens machen müsse, solange Nofretete als Große königliche Gemahlin das Schicksal des Landes