Jenseits von Deutschland. George Tenner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: George Tenner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754112793
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Afghanistan, ich leg schon den Turban an, auf geht’s zu den Taliban!«, grölten die Männer. Nur jener Eddie und einer der Zivilisten schienen den Text vergessen zu haben, stellte Jerôme fest, der die Szene interessiert beobachtete.

      Die Kellnerin brachte den Espresso. Sie bemerkte, wie gespannt Jerôme zu der Truppe am hinteren Tisch schaute.

      »Es ist immer das Gleiche«, sagte sie. »Sie kommen friedlich herein, fangen an zu diskutieren und trinken mehr, als ihnen bekömmlich ist. Schließlich wird es so laut, dass sich die anderen Gäste beschweren und wir in der Kaserne anrufen müssen, bevor hier eine Schlägerei vom Zaun gebrochen wird. Wenn wir nicht aufpassen, geht die Einrichtung zu Bruch, und das können wir uns nicht leisten. Sind Sie auch einer von denen?«

      Jerôme schaute auf die Rechnung. 17,50 Euro für das Schweinefilet mit Spargel schienen ihm nicht gerade billig. Es war eine gute Portion gewesen, der Spargel sauber geschält, sodass er butterweich im Mund zerging. So gesehen war das Essen diesen Preis wert. Nur den Espresso, von dem er nun einen kleinen Schluck nahm, hätte er sich heißer gewünscht. Alles Gute war nicht immer beisammen. »Ich rücke morgen ein.«

      Der Leutnant kam in Begleitung eines Hauptfeldwebels und steuerte zielsicher auf den Tisch des Ungemachs zu. »Der Ausgang ist heute für euch beendet«, sagte er in einem ruhigen Ton. »Ihr zahlt jetzt und fahrt mit mir zur Kaserne zurück.«

      Er ging zur Kellnerin. »Sie können jetzt abkassieren«, sagte er. »Ich nehme die Jungs mit.«

      Die Frau nickte und ging zu dem Tisch. Der Leutnant blieb an der Tür stehen und schaute, dass alles ohne Komplikationen seinen Gang gehen würde. Auch der Hauptfeldwebel, der neben dem Tisch stehen geblieben war, gab seine drohende Haltung auf und lächelte den Kameraden zu. Der Grat zwischen einem friedlichen Abzug und einer explosionsartigen Schlägerei war nur sehr klein. Jeder von ihnen wusste das. Der Abmarsch der Rekruten vollzog sich relativ leise.

      Niemand im Gastraum nahm Anstoß daran. Aber alle schauten dem Treiben gespannt zu. Insgeheim hoffte der eine oder andere der alten Herren vom Stammtisch darauf, dass noch etwas passieren möge. Als Voyeure waren sie darauf aus, auf Kosten anderer beste Spannungsunterhaltung geboten zu bekommen. Aber dieses Mal wurden sie enttäuscht, und so gingen die Unterhaltungen über den Sinn oder Unsinn der deutschen Wiedervereinigung weiter.

      Jerôme war gerade dabei, das Kabel zu lösen, welches das Fahrrad vor einem Diebstahl sicherte, als die beiden Zivilisten, die an dem Tisch der Rekruten gesessen hatten, herauskamen. Lauthals diskutierten sie, dass der Leutnant sicher ein ganz patenter Kerl sei, denn er hatte die Rekruten in einem leisen, zivilen Ton zum Gehen aufgefordert.

      »So schlecht scheint es beim Bund gar nicht zu sein, Wolfgang«, sagte Silarski. »Sieht eher nach einem ganz vernünftigen Haufen aus.«

      »Franzke ist einer der ruhigen Typen. Ein Ausbilder, der die Rekruten anders bei den Eiern kriegt als nur mit Druck. Aber der Hauptfeldwebel, der dabei war, ist unberechenbar.«

      »Darf ich euch mal etwas fragen?«, ließ sich Jerôme vernehmen.

      »Ich wette zehn zu eins, dass du uns über die Kaserne ausfragen willst«, sagte der, den Adam Silarski mit Wolfgang angesprochen hatte.

      »Na ja, ich muss morgen dort antreten.«

      »Hast du gehört, Adam? Der muss morgen auch einrücken.«

      »Zur Ausbildung?«, fragte Silarski.

      »Das hab ich hinter mir.«

      »Woher kommst du?«

      »Aus Walldürn.«

      »Nibelungen-Kaserne, kenne ich«, sagte Wolfgang. »Logistikbataillon 462.«

      »461«, verbesserte Jerôme. »Und du?«

      »Muss auch morgen einrücken. Nur Wolfgang hat es hinter sich. Der fährt nach Hause.«

      »Bin heute entlassen worden«, sagte Wolfgang, »und weiß im Augenblick nicht, wohin ich soll.«

      »Wieso?«

      »Meine Mutter ist während meines Einsatzes gestorben. Krebs, da bin ich durchgedreht. Der Psychiater hat gesagt, ich sei für den Dienst an der Waffe nicht mehr zu gebrauchen.«

      »Würde so mancher etwas dafür geben«, sagte Silarski.

      »Halt’s Maul, Adam! Du weißt nicht, wie es ist, wenn man nachts hochschreckt und Kinder sieht, denen man den halben Kopf weggeschossen hat.«

      »Hast du kein Zuhause? Was ist mit deinem Vater? Deiner Freundin? Du hast doch eine?«, fragte Jerôme.

      »Meine Freundin ist mit meinem besten Freund abgehauen. Sie hat es mir telefonisch mitgeteilt, an dem Tag, als ich die Nachricht vom Tod meiner Mutter bekam. Das gab mir den letzten Rest.«

      »Und dein Vater?«

      »Den habe ich nie kennengelernt. War wohl ein One-Night-Stand gewesen. Aber sie war eine ordentliche Mutter, keine Schlampe!«

      »Woher kommst du?«

      »Aus Meiningen. Es existiert dort auch noch die Wohnung. Ich denke, ich werde sie auflösen und in eine andere Stadt ziehen. Vielleicht sogar nach dem Westen. Ich habe im Ruhrgebiet eine Tante.«

      »Wird vermutlich das Vernünftigste sein, Wolfgang. Manch-mal ist man gezwungen, einen neuen Lebensabschnitt einzuläuten. Es ist mit Verlusten verbunden, öffnet aber meistens auch neue, interessante Perspektiven«, sagte Jerôme. »Ich weiß, wovon ich spreche.«

      »Und schöne Frauen gibt es auch außerhalb Thüringens überaus reichlich«, ergänzte Silarski.

      Sie gingen in Richtung Hotel Stadt Beelitz. Jerôme schob das Fahrrad neben sich her.

      »Wir könnten noch einen Kaffee zusammen trinken«, sagte Silarski.

      »Gute Idee«, sagte Jerôme. »Ich lade euch ein.« Er schloss das Rad wieder an, und die neue Allianz ging ins Restaurant des Hotels Stadt Beelitz. Es war kaum besucht. An einem Tisch am Fenster diskutierten zwei Männer über irgendein Geschäft mit Kunstdünger, den man für die ertragreiche Gewinnung von Futtergerste einsetzen wolle.

      Silarski bestellte im Vorbeigehen bei dem Kellner drei Latte Macchiato.

      »Was hat das mit den Kindern auf sich, die dir im Traum erscheinen?«

      Jerôme merkte, dass er auf einen Nerv getroffen hatte.

      »Keiner kann sich vorstellen, der noch niemals in solchen Gegenden gewesen ist, was es bedeutet, Tag für Tag an so einem verfluchten Platz, dem Arsch der Welt, zu vegetieren«, sagte Wolfgang leise. »Schuld daran sind alle Politiker, die unsere Jungs nicht in ein Land, sondern in eine Hölle geschickt haben.«

      »Krieg ist immer grausam«, warf Silarski ein. »Ganz gleich, wo er stattfindet.«

      »Aber du musst wissen, wofür du kämpfst. Ist es in Afghanistan ein gerechter oder ein ungerechter Krieg?«

      »Was ist denn ein gerechter Krieg?«, fragte Jerôme.

      »Ganz sicher nicht der in Afghanistan. Denn dort verteidigen wir unser Land nicht, verstehst du? Dort können wir nur die Schnauze voll bekommen. Und wofür? Dafür, dass die Islamisten uns irgendwann Bomben in unsere Städte tragen, so wie in Madrid oder in London. Vorerst begnügen sie sich aber damit, unsere Jungs vor Ort totzuschießen.« Wolfgang war so aufgeregt, dass sein Gesicht konvulsiv zuckte und rote Flecken bekam.

      Der Kellner kam und brachte die Latte Macchiato.

      »Und die Kinder?«, bohrte Jerôme, als der Kellner wieder hinter seinem Tresen verschwunden war.

      »Der Norden Afghanistans ist der offizielle Einsatzort der Bundeswehr. Nach dem, was in Deutschland verbreitet wird, sind wir in einer Friedensmission in diesem Land. Aber das ist eine gezielte Desinformation des Volkes, eine Volksverdummung. Unser Land befindet sich längst im Krieg. Täglich schlagen die Taliban irgendwo zu. Meist dort, wo du sie gar nicht vermutest. Aber meist in unzugänglichen Bergregionen. Bei einem dieser Überfälle