Ich stehe auf und humple nach vorne. Die Schiene summt mit jedem Schritt. Ich gehe dort hin, nicht um den Sensor zu betätigen, obwohl die Versuchung groß wäre, jetzt ungestört zu sein. Nein, ich will nun doch wissen, wer es ist, der mich anstarrt.
Ich bin da, berühre die Scheibe, fühle wie kalt sie ist. Aber nicht im Entferntesten so kalt wie meine Haut, wenn meine Bestien erwachen. Das Sichtfenster wird größer und ich halte durch, bis die ganze Wand transparent ist, bis ich alles und jeden sehen kann, der sich auf der anderen Seite befindet. Ich wage es nicht, die andere Seite Freiheit zu nennen, weil ich mich nicht eingesperrt fühle.
Der Mann trägt keine Uniform. Keinen roten Panzer, so wie die Vollstrecker. Er ist in einen schwarzen Stoff gekleidet, der mich an Sektion 13 erinnert. An den Finanzdistrikt, an die Menschen, die dort Tag für Tag zur Arbeit gehen und von all dem hier nichts wissen, nicht das Geringste ahnen. Wie unwirklich sich dieser Gedanke anfühlt. Als befände ich mich in einer anderen Welt.
Was die Menschen in Sektion 13 oder in all den anderen Sektionen machen würden, wenn sie über die Wahrheit Bescheid wüssten? Wäre das eine Möglichkeit, die Pfeiler, die Machtstrukturen der Gesandten zu erschüttern? Alle in Kenntnis zu setzen, um zu revoltieren?
Ich betrachte wieder den Mann. Alles an ihm folgt einer klaren Struktur, unbeugsamen, unsichtbaren Linien. Angefangen bei seiner wie aus Stein gemeißelten Nase, bis zu der Schnürung seiner Schnürsenkel. Wenn er Entscheidungen trifft, dann überlässt er nichts dem Zufall, denke ich.
Er lächelt mich an und etwas Wärme scheint von ihm, seinem Herzen zu mir, in mein Zimmer zu rieseln. Das Lächeln ist echt. Ich beobachte ihn ohne zu wissen, wie ich auf ihn, auf die mir geschenkte Freundlichkeit reagieren soll.
Nun begibt er sich zum Schließmechanismus oder Öffnungsmechanismus, wie man es sehen möchte und meine Zimmertür öffnet sich für mich. Jetzt, da er sich bewegt hat, erkenne ich ihn wieder. Er war es, der mir auf dem Dach der Forschungsstation das Leben gerettet hat. Der den Vollstreckern befohlen hat, das Feuer einzustellen, ihre Waffen nach oben gerissen hat, damit sie den Himmel treffen und nicht Hope oder mich. Auf dem Dach trug er etwas Militärisches - erinnere ich mich. Ganz anders als jetzt. Er sieht vielmehr aus, als wäre er ein Geschäftsmann.
Mit mir ist schlecht Geschäfte zu machen. Ich habe nicht viel zu bieten. Außer einem in die Jahre gekommenen, blauen Teddy und ein paar Fähigkeiten. Körperlicher Kram würde Hope sagen und etwas anderes. Etwas, das dort oben auf dem Dach passiert ist und eben im Badezimmer. Etwas, das ich noch weiter erforschen muss. Etwas, das mich dazu befähigte, Hope das Leben zu retten und ich bezweifle, dass es an der Qualität meiner Stimme, meines Gesangs lag, dass sie nicht gestorben ist, sondern ihre Augen geöffnet hat, um einen Scherz zu machen. Gute, alte, lebenslustige Hope.
„Mein Name ist Fischer, ich bin verantwortlich für die Sicherheit dieses Komplexes.“ Für die Sicherheit? Seltsam, dass er immer noch lächelt. Hope und ich müssen ihn in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht haben.
„Mein Name ist Freija und ich wurde hier geboren“, sage ich und Fischer nickt mir zu. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn in meiner Vergangenheit einmal gesehen zu haben. Nur an den Professor kann ich mich erinnern, an die acht Jungs und an Asha, die sich jetzt vermutlich hinter der undurchsichtigen Glasscheibe gegenüber befindet. Ob Fischer wohl weiß, dass ich hier geboren wurde und dass Asha und ich Zwillingsschwestern sind?
„Folge mir bitte.“ Es ist das Bitte, der Ton und sein Lächeln, die den Unterschied ausmachen. Ich kann nicht sagen wieso, aber ich vertraue ihm.
Wir verlassen die Halle mit den Kammern? Zellen? Laboratorien! Folgen einem unendlich langen Korridor, an dessen Ende ein Aufzug auf uns wartet.
„Keine Vollstrecker, um mich in Schach zu halten?“, frage ich beiläufig, weil mir auffällt, wie ruhig und furchtlos er in meiner Gegenwart ist.
„Du wirst mir nichts tun, solange du deine Freunde nicht in Sicherheit wiegst. Wir werden sie töten, wenn du etwas Unüberlegtes tust.“ Er sagt das, ohne dass es sich wie eine Drohung anfühlt. Er spricht einfach nur von der Wahrheit.
Vier Sektorebenen höher, zwei nicht enden wollende Gänge mit dutzenden Türen weiter, erreichen wir eine Galerie. Sonnenlicht flutet durch kristallklare Glasfronten und kitzelt mich dort, wo das blütenweiße Hemd meinen Körper nicht bedeckt. Auf meinem Gesicht, meinen Armen und meinen Beinen.
„Wo sind wir?“
„Nach wie vor in der Forschungsstation.“
„Es ist schön hier.“ Fischer sieht mich an, als habe ich etwas Geheimes ausgesprochen. Etwas bewegt ihn, aber er spricht nicht, verrät mir nicht, was es ist, das seine Augen in traurige Ovale verwandelt.
„Wo bringst du mich hin?“
„Freija hör zu, es ist mir nicht gestattet mit dir…“, er stockt mitten im Satz.
„Mit einer Gefangenen zu sprechen?“, helfe ich ihm. Fischer nickt. „Das ist deine individuelle Entscheidung, ob du mit mir redest oder nicht.“
„Nein, das ist es leider nicht. Es schreibt das Protokoll vor.“
„Das Protokoll? Ist das nur ein weiterer Fetzen Papier?“
„Es sind Regeln, an die wir uns zu halten haben.“
„So wie die Sieben Gebote, nehme ich an?“
„Vergleichbar. Die Inhalte sind für Vollstrecker gemacht, aber im Kern sind es die gleichen Grundsätze.“
„Das heißt, du hast auch keine Familie? Ich meine, du kennst deine Familie nicht?“ Fischer schweigt und hält sich an das Protokoll, dessen Inhalt ich nicht kenne, aber ich spüre, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen habe. Wir haben gleich das Ende der Galerie erreicht, abrupt bleibt Fischer stehen.
„Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dich zum ersten Mal sah. Deine Haare erinnern mich an das Haar meiner Tochter“, sagt er wie aus dem Nichts. Ich schaue ihn an, bin im Moment gerade sprachlos und dann öffnet sich die Tür, der wir uns die ganze Zeit schon genähert haben. Durch Stockwerke, Gänge, Korridore und zuletzt durch die lichterfüllte Galerie, in der Fischer nun doch mit mir Persönliches ausgetauscht hat. Gegen die manifestierten Regeln, gegen das Protokoll verstoßen hat.
„Du hast recht. Man hat immer eine Wahl. Das ist die Freiheit jedes Menschen“, sagt er leise, als wären wir geheime Verbündete.
„Jedes nicht programmierten Menschen“, flüstere ich, dann wende ich mich von Fischer ab, bin noch immer über die Vertrautheit, diese Wendung seines Verhaltens, seine Entscheidung verwirrt. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, scheint es uns beiden dennoch viel zu bedeuten. Ich blicke zur geöffneten Tür und bin gespannt, was oder wer mich jetzt erwartet. Sie geht in diesem Moment ganz auf und ich sehe…
„Trish…?!“
Sie materialisiert sich dort in dem Durchgang zu dem unbekannten Raum und schaut mich mit nüchterner, verdrießlicher Miene an. Ich starre sie an wie ein erschrockenes Reh. Dann überkommt mich ein Gefühl, dass ich ihr jetzt sofort am liebsten um den Hals fallen würde, aber ich tue es nicht, weil ich spüre, dass ich es nicht vermag, ihre eisige undurchdringliche Ruhe anzukratzen. Trotzdem.
Sie sieht gut aus. Gesund und frisch.
Das braune Haar fällt ihr locker über die Schultern, das elegante, in Erdtönen gehaltene Kleid und die hochhackigen Schuhe stehen ihr unwahrscheinlich gut.
Sie gibt mir mit einem gastlichen Wink zu verstehen, dass ich eintreten darf. Ich folge ihrer Einladung.
Es werde Licht.
Der Raum besteht aus goldenen Sonnenstrahlen. Wir müssen uns an dem äußersten Winkel des Gebäudes