Dogmatisches Denken ist meist negativ konnotiert und als den Erkenntnisfortschritt behindernd definiert. Doch gibt es Wissenschaft ohne Dogmen nicht, denn sie begründen das Wissensfundament, auf dem Wissenschaft aufbaut. Wie religiöse Dogmen auch haben wissenschaftliche Dogmen allerdings die Tendenz, sich zu verabsolutieren und veränderungsresistent zu werden. Sie können den Blick auf alternative, bessere Erklärungsansätze trüben.
Man hat in der Wissenschaftstheorie lange gedacht, dass Wissenschaft ein in sich begründeter und begründbarer rationaler Prozess ist, der unabhängig und objektiv gesteuert wird. Nach dieser Vorstellung war die wissenschaftliche Beobachtung eines Phänomens vollkommen wertneutral und frei von kulturellem, sozialem und historischem Kontext, sowie von psychologischen, politischen und finanziellen Einflüssen. Der englische Philosoph Robin C. Collingwood hat neben anderen Wissenschaftsphilosophen gezeigt, dass es kein wissenschaftliches System geben kann, das aus sich heraus schlüssig seine grundsätzlichen Annahmen und seine Methoden begründen kann [2]. Diese logische Unmöglichkeit ist in Abbildung 1 anhand der sich selbst zeichnenden Hände des holländischen Künstlers M. C. Escher dargestellt.
Man kann das z.B. mit einem Fußballspiel vergleichen. Es „funktioniert“ nur so lange, wie sich die Spieler an die Regeln halten. Diese Regeln sind normativ festgelegt. Sobald ein Spieler z.B. auf die Idee kommt, den Ball in die Hand zu nehmen, um dem ultimativen Ziel des Spiels gerecht zu werden (möglichst viele Bälle hinter die Torlinie zu bringen), verliert das Fußballspiel seine Bedeutung bzw. ändert seinen Bezugsrahmen.
In der Wissenschaft geben Paradigmen und Dogmen die Konventionen vor, an die sich Wissenschaftler zu halten haben. Diese Konventionen sind, wie gesagt, nicht durch sich selbst begründbar. Damit das „Spiel“ Wissenschaft funktioniert – und damit indirekt Dogmen bestätigt und gefestigt werden – einigt man sich auf nicht weiter hinterfragte Voraussetzungen, die als absolut definiert sind. Collingwood nennt sie absolute Voraussetzungen.
Auch wenn sich solche Voraussetzungen durch Erfahrung bewährt haben, heißt das nicht, dass sie unumstößliche Gültigkeit besitzen. Ein Dogma kann seine Gültigkeit verlieren, wenn ein Paradigmenwechsel gewagt und das zu untersuchende Objekt aus einer völlig anderen Perspektive, also unter anderen absoluten Voraussetzungen betrachtet wird. Es gibt Dogmen, die sich halten, obwohl sie eindeutig widerlegbar sind und/oder im Kreuzfeuer wissenschaftlicher Kritik stehen. Und es gibt Dogmen, deren Kritik oder Revision tabuisiert sind und nicht hinterfragt werden dürfen. Letztere sind für den Erkenntnisfortschritt besonders schädlich.
Es ist wichtig festzuhalten, dass absolute Voraussetzungen weder durch rationales Denken noch durch bewussten Konsens, z.B. durch explizite Diskussionen von Wissenschaftlern, entstehen. Dogmen werden aber nicht nur durch das geistig-soziale Klima einer Zeit definiert, wie Collingwood dies etwas idealistisch verklärt annahm. Weil Wissenschaft nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern von universitärer Ausbildung, beruflicher Sozialisation, der wissenschaftlichen Gemeinschaft, Forschungsgeldern und akademischer Karriere abhängen, werden sie von den Wissenschaftlern, Akademikern und Forschern internalisiert und nicht weiter hinterfragt. Tatsächlich dienen gerade manche der Dogmen, die zu „Meilensteinen der Wissenschaft“ erkoren wurden, anderen Zwecken als dem reinen Erkenntnisgewinn.
Obwohl es in der Wissenschaft eigentlich keine Denktabus geben dürfte, werden Personen, die gegen diese verstoßen, mit spürbaren Strafen in Form von Ausgrenzung, Verhöhnung, Berufsverbot oder Schlimmerem belegt. Je mehr die Dogmenverletzung gegen die absolute Voraussetzung verstößt, desto größer die Repressalien für den „Häretiker“.
Die Parallelen zwischen Wissenschaft und Religion sind unübersehbar. Hier wie dort gibt es sakrosankte Dogmen, die wie ein Gral gehütet werden. Hier wie dort kann man als Ungläubiger „exkommuniziert“ werden. Hier wie dort muss man „abschwören“ und sich „bekehren“, wenn man weiterhin zum akzeptierten wissenschaftlichen Zirkel gehören will.
Im folgenden Kapitel stelle ich zwei Dogmen vor, die trotz ihrer nachweislich falschen, leicht zu widerlegenden Thesen von der wissenschaftlichen Gemeinschaft aufrecht erhalten werden. Diese Dogmen haben mit dem Thema dieses Buches, der Informationsmedizin, oberflächlich betrachtet wenig zu tun. Sie sind aber ganz bewusst gewählt. Erstens verdeutlichen sie, dass ein Dogma, je nach seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung, den Blick für wichtige, tiefer gehende Zusammenhänge trüben kann. Zweitens behandeln beide für die Biologie des Lebens wichtige Implikationen, die durch das ergänzt werden kann, was in den nachgestellten Kapiteln zum Prinzip des Lebens gesagt wird.
Die Revision beider Dogmen hat – wie sich leicht nachvollziehen lässt – weitreichende Konsequenzen für unser medizinisches, wissenschaftliches und spirituelles Weltbild.
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