Unfallfrei war er schließlich wieder an der Wiese angekommen und blickte sich im hohen Schnee suchend um. Er war sich sicher, dass er ihn genau an dieser Stelle zurückgelassen hatte, doch er konnte nichts Funkelndes im mittlerweile hohen Schnee entdecken. War er an der falschen Stelle? Oder war der Regenbogen nicht mehr hier? Zuerst erschrak er, doch dann sah er es hübsch blau hinter einem großen Steinbrocken hervorblitzen und trat rasch an die Stelle, darauf bedacht, nicht auf seinen Freund zu treten.
»Da bist du ja endlich!«, begrüßte ihn der Regenbogen vorwurfsvoll. »Mir war schon ein wenig langweilig und ginge jetzt wirklich gerne an einen wärmeren Platz.«
Vorsichtig nahm Marvin den kleinen Regenbogen in die Hand. Er konnte ihn kaum spüren, denn so ein Regenbogen wiegt ja nicht besonders viel. Vorsichtig schloss er die Hand um ihn, ohne ihn zu zerdrücken und machte sich dann schnell auf den Heimweg. Dabei unterhielt er sich nicht mit seinem Gefährten, denn außer ihm wusste ja niemand, dass dieser da war und die Menschen hätten ihn womöglich für seltsam gehalten, wenn er in Selbstgespräche verwickelt an ihnen vorbeigehastet wäre.
Oder – nicht auszudenken – was wäre gewesen, wenn jemand anderes die Stimme des kleinen Regenbogens vernommen hätte?! Als er niemanden entdecken konnte, zischelte er dem Regenbogen zu: »Hast du eigentlich einen Namen? Ich kann dich ja nicht nur Regenbogen nennen?«
Vorsichtig hielt er die geschlossene Faust höher und tat so, als müsste er auf die Uhr an seinem Handgelenk schauen, obwohl man das üblicherweise auch nicht macht, indem man beide Hände ineinander verschränkt ans Ohr hält. Dumpf kam die Antwort aus der Faust zurück: »Ich heiße Pit. Einfach nur Pit.«
Marvin nickte, obwohl Pit das ja nicht sehen konnte, und sagte dann zu seiner Faust: »Und ich heiße Marvin. Willkommen in deinem neuen Zuhause.«
Er ließ die Faust sinken und rannte nach einem kurzen Blick nach links und rechts rasch über die menschenleere Straße und in die Einfahrt des elterlichen Hauses. Die Reifenspuren, die das Auto seines Vaters heute Morgen in den frischen Schneeflocken hinterlassen hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Aber die Mutter hatte wenigstens die Treppe, die zur Haustür führte, mit einem Besen freigemacht, damit niemand ausrutschen konnte.
Atemlos sprang er die sechs Stufen hoch, behielt Pit in der linken Hand und klingelte mit der rechten Hand Sturm. Die Mutter öffnete ihm mit einem Lächeln, das aber einem verdutzten Blick wich, denn Marvin hetzte nur mit einem nur flüchtig gemurmelten Gruß an seiner Mutter vorbei in sein Zimmer. Sie schüttelte missbilligend und verwundert den Kopf, Schloss die Tür, um die Kälte draußen zu lassen und ging Marvin hinterher.
Nebenbei fiel ihr auf, dass Marvin die nassen Schuhe nicht ausgezogen hatte, was sie problemlos an den dicken, nassen Spuren auf dem Boden erkennen konnte. Sie war sauer und ging Marvin hinterher.
»Marvin, ist etwas passiert?«, rief sie laut auf dem Weg zu Marvins Zimmer. Und man hörte aus ihrer Stimme dann doch einen leichten Anflug von Unbehagen.
Die Situation kam ihr seltsam vor, wenn sie auch nicht glaubte, dass etwas Schlimmes geschehen war, denn sie hatte gesehen, dass Marvin unverletzt war. Trotzdem. Marvin verhielt sich nicht so, wie er es normalerweise tat, wenn er von der Schule nach Hause kam.
Meist begrüßte er sie überschwänglich und erzählte ihr sofort, was er alles erlebt hatte, während er seine schmutzigen Schuhe auszog und ordentlich auf der dafür vorgesehenen Matte abstellte. Und sogar dann begleitete er sie meist noch in die Küche, um etwas zu trinken oder auch ins Wohnzimmer, wenn sie gerade dort etwas zu tun hatte. Sie überlegte. Vielleicht hatte es ja in der Schule Streit gegeben?
Marvin hörte die sich rasch nähernden Schritte seiner Mutter auf den Steinfliesen im Flur und schrie schnell zurück: »Nein, nein, ich habe mich nur beeilt, weil ich ganz dringend mal aufs Klo muss!«
»Na, dann ist es ja gut«, gab die Mutter erleichtert zurück. Sie hatte keinen Grund, Marvin diese Ausrede nicht abzunehmen. Und aufs Klo würde sie ihm natürlich nicht folgen. Also beschloss sie, später einen Putzlappen zu holen, um die Schweinerei auf dem Boden zu beseitigen. Doch zunächst ging sie statt in Marvins Zimmer in die Küche zurück, um das Mittagessen fertig zu kochen. Sie wollte schließlich nicht, dass das vorbereitete Essen anbrannte.
Die Steinfliesen sahen zwar nicht besonders heimelig aus, würden aber nicht kaputtgehen, wenn sie sie erst später sauber machte. Fröhlich singend drehte sie das Radio lauter und sang »Jingle Bells« mit, während sie vorsichtig den Eintopf umrührte. Sie hatte Glück, er war nicht übergekocht. Und er schmeckte sogar ganz gut, wenn sie sich selbst loben durfte. Ab und zu darf man das, gestand sie sich ein und sang noch etwas beschwingter mit.
Marvin atmete auf. Das war ja gerade noch mal gut gegangen! Er legte Pit auf seinem noch nicht gemachten Bett ab und beschloss, sich erst einmal umzuziehen. Schnell schlüpfte er aus der dicken Jacke und den nassen Schuhen, wobei er dann die Schweinerei bemerkte, die er angerichtet hatte. »Oje! Das wird ganz schön Ärger geben!«, jammerte er sich beim Anblick der nassen Pfütze auf seinem dunklen Teppich.
Schnell griff er die feuchten Stiefel und stellte sie vor seiner Zimmertür auf den Steinboden. Um den Wasserschaden würde er sich gleich kümmern, zuerst wollte er sich etwas Bequemeres und Trockenes anziehen. Er überlegte nicht lange und entschied sich dann dafür, die klamme, feuchte Jeans gegen die Hose seines Trainingsanzuges auszutauschen. Der Anzug lag ohnehin über der Rückenlehne seines Schreibtischstuhles und er hatte heute ja nichts mehr vor, bei dem er gut aussehen musste.
Es war jetzt nur wichtig, dass er sich rasch mit seinem neuen Freund beschäftigte. Und mit den Schuhen, die vor seiner Zimmertüre auf Reinigung warteten. Er öffnete probeweise die Tür und lauschte auf die Geräusche, die ihm bestätigten, dass seine Mutter in der Küche war. So konnte er rasch die Stiefel schnappen und sie in den Flur zurücktragen und auf die Matte stellen.
».... jingle all the way ...« sang seine Mutter und wirbelte durch die Küche. Marvin grinste. Seine Mutter sang zwar laut aber nicht gut. Schnell lief er zurück in sein Zimmer, die Schweinerei würde er lieber später beseitigen, das Wasser war von seiner Mutter sicher schon gesehen worden und sie vermutete schließlich, dass er sich gerade dringend im Badezimmer aufhielt. Es wäre doch verdächtig, wenn er stattdessen den Flur putzen würde, oder? Natürlich war er ohnehin zu faul dafür, aber es ging doch nichts darüber, vor sich selbst eine gute Ausrede zu finden.
Marvin grinste und schlich rasch in sein Zimmer zurück, wo er leise die Tür schloss und erst einmal tief durchatmete. Er stellte sich vor Marvin, der noch immer auf der Bettdecke des ungemachten Bettes saß – oder lag? Kann ein Regenbogen sitzen? – und versuchte, die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen. Pit beobachtete Marvin aufmerksam bei seinen für einen Regenbogen selten anzuschauenden Verrichtungen und blickte sich natürlich auch im Zimmer um. Als Regenbogen hatte man nicht oft die Gelegenheit, das Zimmer eines kleinen Jungen von innen kennenzulernen.
In stummem Erstaunen betrachtete er die Poster von Zeichentrickhelden, Fußballstars und Rennautos sowie das volle Bücherregal und die Spielsachen, die unordentlich auf dem Boden herumlagen. »Ich wusste nicht, dass Menschen so viele Dinge zum Leben brauchen!«, sagte er dann.
»Naja, brauchen würde ich das nicht direkt nennen«, antwortete Marvin verlegen. »Man hat einfach gewisse Dinge ...«, die man aber einem Regenbogen nicht erklären kann, beendete er seinen Satz im Geiste und zuckte mit den Schultern, anstatt den Satz zu vollenden.
»Und wo wird mein Platz sein?«, fragte Pit, ohne noch einmal auf die Gebrauchsgegenstände eines Siebenjährigen zurückzukommen.
»Tja«, gab Marvin zurück und blickte sich suchend in seinem Zimmer um. Nachdenklich