Etwas steckte doch merkwürdig gequetscht zwischen den beiden Sitzen. Von seinem Platz aus betrachtet, hatte er es die ganze Zeit für seine Tageszeitung gehalten. Aber jetzt im Stehen und bei genauerem Hinsehen traute er seinen Augen kaum.Eine innere Stimme zweifelte leise:
„Konnte es denn wahr sein? War das Glück heute mein treuer Gefährte, oder ein Schelm, der seinen Schabernack mit mir treibt“?
Zögerlich an die Stelle gebeugt zog er mit seinen Fingern behutsam die zerfransten Buchdeckel, mit samt Notizblättern, aus dem Zwischenraum heraus.
„Doch“, rief die gleiche innere Stimme freudig aus, „ es waren ihre Aufzeichnungen und gut gehüteten Notizen“!
Mit zittrigen Händen, ohne jede weitere Bewegung, ohne ein Wort zu sagen verharrte Herr K. in dieser andächtigen, seltsam anmutenden Position.
Wie viel Zeit in dieser unüblichen Haltung verstrichen war konnte der glückliche Finder in seinem inneren Freudentaumel nicht genau beurteilen. Aber irgendwann trat der Schaffner besorgt an den versteinerten Fahrgast heran.
„Mein Herr, geht es ihnen nicht gut“? Der Angesprochene schaute ihn verwundert an und erwiderte wie selbstverständlich ein,“ Aber ja doch“! Mit großer Erleichterung in seinem Gesicht mahnte der Bahnangestellte den letzten Fahrgast zum Ausstieg, da der Zug hier endete und schon bald einem neuen Einsatzziel zugeführt würde. Herr K. solle bitte zügig seine Sachen an sich nehmen und diesen Zug umgehend verlassen. Der Autor nickte zustimmend, drückte das Notizbuch an seine warme Brust und schickte einen Blick der Dankbarkeit an den Himmel über sich.
Zügig verließ der letzte Passagier das Abteil und betrat den Bahnsteig mit teigigen Beinen. Voller Aufregung, angefüllt mit unendlicher Neugier, steuerte dieser auf eine nahegelegene Bank zu und ließ sich dort für einen Moment nieder.
Mit Freude und einem breiten Lächeln betrachtete er das Kleinod zwischen seinen Händen. Nun wurde Herr K., durch einen unverhofften Zufall der Träger ihrer Geheimnisse – im wahrsten Sinne des Wortes. Doch der ehrliche Finder schwor, das Werk mit ihren privaten Notizen nur oberflächlich durchzusehen, um einen Anhaltspunkt über die Identität zu bekommen. Der Autor war zu diesem Zeitpunkt fest entschlossen diese attraktive Fremde ausfindig zu machen, um ihr das Eigentum wiederzugeben!
Unentwegt blätterten flinke Finger durch die unübersichtlichen Schriften – emsig suchten seine Augen in den Seiten nach verräterischen Anhaltspunkten herum. Doch die Hoffnung auf eine Anschrift, gar einer bestimmten Person, zerstreute sich jedoch ziemlich schnell. Eine erfolgreiche Suche war schwerer als gedacht! Nicht zuletzt sah er sich gezwungen tiefer in das schriftlich Niedergelegte einzutauchen, um zu verwertbaren Hinweisen zu kommen.
Er traute seinen Sinnen kaum, aber da lagen die wichtigsten Stationen eines Menschenlebens, unmittelbar vor seinen Augen. Seite für Seite, in allen Einzelheiten und mit persönlichen Gedanken und Erklärungen von Gefühlen angefüllt und unheimlich echt und ergreifend beschrieben.
Die lodernde Neugier hatte von diesem faden Autor einen teuflischen Besitz ergriffen. Und so fing dieser fremde Mann an, getrieben von flammender Hoffnung, die ersten Seiten genauer zu studieren. Immer wieder schimmerte das Gesicht der schönen, faszinierenden Frau als Bild vor seinen Augen herum. Seine irritierte Nase glaubte den Geruch ihres “Eau de Toilette“ riechen zu können. Aber trotz des belebenden Zusammenspiels seiner bildhaften, fast filmischen Erinnerung und den schriftlichen Ausführungen, konnte Herr K. weder eine Anschrift noch einen vollständigen Namen finden.
Nur ein Vorname – und eine bewegte Vergangenheit dazu, wie sich vermuten ließ. Begierig las er weiter, denn die Geschichte zog ihn, wie durch einen Zauber, in seinen Bann. Darüber hinaus vergaß er alles. Die Uhrzeit, wo er sich befand, und warum er eigentlich hier in diesem Bahnhof war!
„Da bist Du ja! Wieso sitzt Du hier herum? Geht es Dir nicht gut?...Ich warte schon seit einer dreiviertel Stunde am Ausgang auf dich“. Und damit holte diese strenge, dunkle Männerstimme den Leser prompt in die Gegenwart zurück.
„Meinen alten Schulfreund, den hatte ich ganz vergessen! Er wollte mich abholen“, fiel es dem zerstreuten Autor schreckhaft in die Glieder
„Nein danke, es geht mir gut“,antwortete dieser ganz verlegen. Dazu hob er entschuldigend die Hand. Umgehend sprang er von der Bank auf und grüßte seinen Freund herzlich, als sei nichts besonders gewesen. Jedoch spürte der zerstreute Mann mit einem Schlag, dass ihn die Begegnung mit der Dame im Zugabteil doch mehr umtrieb, als er wahr haben wollte. Eilig raffte Herr K. alle seine Sachen zusammen – doch auf das fremde Notizbuch gab er dabei ganz besonders Acht!
Der guter alter Freund!
Auch nach all den Jahren hatte er sich nicht geändert – und Herr K. wahrscheinlich genauso wenig! Damals wie heute, war es dem schüchternen Autor unmöglich etwas lange genug vor ihm zu verheimlichen – er konnte sich noch so bemühen, aber wenn sein Freund T. einen Verdacht hatte, presste er geschickt das Geheimnis aus Herrn K. heraus. Komischerweise ging es ihm dann nach der Beichte wesentlich besser! Also berichtete der Autor knapp, während beide die Straße entlangliefen, von der überraschenden Begegnung mit der attraktiven Dame auf der Bahnfahrt hierher. Zudem fügte er den Schilderung seinen dringenden Wunsch bei, das Tagebuch der rechtmäßigen Besitzerin zurück geben zu wollen. Denn schließlich fühlte er sich irgendwie an dem Malheur mitschuldig – wären beide nicht so vertieft in dem Gespräch gewesen, hätte sie die Station rechtzeitig bemerkt!
„An welcher Station ist sie eingestiegen“, wollte sein neugieriger Freund wissen.
Als dieser ihm weder den Namen der Stationen des Zu - und Ausstiegs nennen konnte, noch ihren genauen Namen, lachte T. langanhaltend und laut. Seine ausgelassene Fröhlichkeit unterhielt dabei die ganze Umgebung. Er nickte immer wieder munter mit dem Kopf dazu und feixte:
„So kenne ich Dich...Du bist immer noch derselbe Draufgänger, wie früher“!
Herr K. wusste mit Gewissheit, diese Bemerkung war keineswegs als Kompliment gemeint, aber dieser besonderen Freundschaft tat es deshalb keinen Abbruch. Schon früher war der Freund mit seiner Art wesentlich erfolgreicher – neidisch war Herr K. deswegen nicht.
Jedoch mit seinem Vorschlag, das Buch im Fundbüro abzugeben und zu hoffen, dass die Besitzerin es irgendwann abholt, wollte der schüchterne Finder sich keinesfalls zufrieden geben. Doch er signalisierte vage seine Zustimmung um endlich seine Ruhe zu bekommen, vor den bohrenden Fragen seines heiteren Bekannten.
Und irgendwann, zwischen Bahnhofshalle und der Haustür seines Freundes, verlor sich dann auch das ungewöhnliche Thema im Getümmel des Straßenverkehrs. T. kannte das Wesen seines stillen Freundes nur zu gut. Er wusste, dass es ihn innerlich sehr beschäftigte und eine einfache Lösung war für diesen komplizierten Fall, in wenigen Minuten nicht zu erwarten. Und daher ließ der Gastgeber das Geschehene, für die Dauer des Aufenthalts, erst mal auf sich beruhen – beide Herren hatten schließlich Besseres zu tun! Sobald der zerstreute Autor wieder in seinen eigenen vier Wänden weilen würde, könnte er sich über das Fahrgastcenter der Bahn möglichst genaue Erkundigungen einzuholen. Oder falls es nichts nützt, eine besondere Suchanzeige in der Zeitung schalten!
Der Aufenthalt war trotz einiger Wehmut ein voller Erfolg. Herr K. hatte jede Minute mit seinem besten Freund ausgiebig genossen. Seine erfrischenden, ehrlichen Worte und zahlreichen Anregungen, sowie die aufregenden Erlebnisse aus der bewegten Vergangenheit waren wirklich ein ganzes Buch wert – und K. fühlte sich bestens aufgehoben und pudelwohl. Trotz der Rücksicht von T. haderte sein Gast zeitweise mit der zurückliegenden Begegnung auf der Bahnfahrt heftig. Dann verbarg er geschickt seine unangenehme Pein, vor dem herzlichen Gastgeber.
Aber insgeheim freute er sich auch wieder auf die bevorstehende Heimreise. Diese Frau hatte es ihm wirklich angetan und jede Minute untätig zu verbringen, ohne ihre genau Identität zu kennen, versetzte den ruhigen Autor immer mehr in Unruhe!
Als