Grenzgänger. Heinrich Pingel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Pingel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754138489
Скачать книгу

      Tag 7 (24.07.2018): Von Einöd nach Rieth

      km: 255 – 292

      Um 9 Uhr, als ich frühstücke, ist es schon wieder unerträglich warm. Mal wieder ein Tag mit weit über 30 Grad! Das Packen der tausend Sachen in die beiden gelben Ortlieb -Packtaschen, rechts und links am Hinterrad, ist immer mit mühseliger Arbeit verbunden. Hinzu kommt die blaue Lenkertasche, in der das Wichtigste verstaut wird: Handy, Ladegerät, kleine Wasserflasche, Fotoapparat, Verbandskasten, gelbes Hals- / Kopftuch, Fototasche und vor allem das Sonnenschutzmittel, Faktor 50. Meine Hautärztin und die zahlreichen ambulanten Beseitigungen von gefährdeten Hautstellen lassen grüßen! Den gelben Plastiküberzug für den Sturzhelm habe ich meistens auf dem Helm. Sieht klobig und bullig aus, aber ich fühle mich wohler auf der Landstraße. Passive Sicherheit. – Das Schicksal von Otto Buchholz, der sich mit dem Fahrrad zu Tode gestürzt hat, ist immer im Hinterkopf!

      Ich verlasse Einöd in Richtung Poppenhausen und komme an einem gepflegten Denkmal für 20 erhängte polnische KZ-Insassen vorbei. Es waren wohl zufällig ausgewählte Buchenwald-Häftlinge, die als Racheaktion für den Tod eines deutschen Bauern durch einen polnischen Zwangsarbeiter ihr Leben lassen mussten. Es ist, wie ich später erfahre, der Initiative eines Ehepaares aus Poppenhausen zu verdanken, dass dieses Mahnmal in den 90er Jahren errichtet wurde. Blumenschmuck der umliegenden Gemeinden lässt vermuten, dass es regelmäßig gepflegt wird. Ich würde diese Menschen gerne kennenlernen, aber irgendwie bin ich noch der Meinung, ich müsse vorankommen auf dem Weg entlang der Grenze und der eigenen Geschichte.

      Mahnmal für die 20 ermordeten polnischen KZ-Häftlinge

      In Poppenhausen erfahre ich von einem Ehepaar mittleren Alters, dass direkt hinter dem Dorf früher der 500 Meter-Sperrzaun stand und man daher nicht oder nur in Ausnahmefällen den Ort des Grauens zu DDR-Zeiten besuchen konnte. Dieses Ehepaar berichtet mir auch von der Zeit vor der Wende. Alles war ruhig und man habe sich eingerichtet. Später geht die Frau mit mir in die protestantische Kirche, die im Wesentlichen mit finanzieller Eigenleistung und durch freiwilligen Arbeitseinsatz wieder vorbildlich restauriert wurde. Es ist bemerkenswert, weil der Ort nur 99 Einwohner hat. Das Verhältnis zu den bayrischen Nachbargemeinden ist unproblematisch. Seit 20 Jahren arbeitet die Frau im Schichtbetrieb im Bayrischen. Das Dorf Poppenhausen feiert alle zwei Jahre mit zwei anderen Gemeinden gleichen Namens.

      Ich folge dem Kolonnenweg und in Käßlitz, dem südlichsten Ort der ehemaligen DDR, erwischt es mich in sengender Hitze: Ein Platten im Vorderreifen. Mühselig hole ich das Flickreparatur-Set hervor und borge mir Wasser beim etwas unwilligen Nachbarn, damit ich feststellen kann, wo sich das Loch im Schlauch befindet.

      Kolonnenweg bei Poppenhausen: Wer liebt, der schiebt…

      Nach einer Stunde habe ich es vollbracht, allerdings bekomme ich mit meiner Luftpumpe nicht genügend Luft auf den Vorderreifen. Mit der westlichsten Stelle der DDR am Plattenweg wird es also nichts.

      Käßlitz: südlichstes Dorf der ehemaligen DDR

      Schlauchreparatur in der Mittagshitze

      Ich komme an einem in der Hitze penetrant riechenden Schweinestall vorbei und freue mich im nahegelegenen Wald über den Schatten und die springenden Forellen in dem Teich. Ein Fischreiher schreckt bei meiner Weiterfahrt auf. Ein Opa mit seinem Enkelkind erzählt mir von Fürsorgezöglingen, die in einem bayrischen Steinbruch arbeiten mussten und in den 60er oder 70er Jahren versuchten, über die Grenze in die DDR zu fliehen. Einer verlor durch eine Mine dabei ein Teil seines Beines.

      Über Schweickershausen geht es auf der Landstraße nach Rieth, einem Ortsteil von Hellingen, wo ich im Gasthaus „Beyersdorfer“ ein Zimmer und etwas Gutes zu essen bekomme. Rostbrätl. Die Männer am Stammtisch diskutieren natürlich über die Hitze, den Fall Özil und dass Hoeneß mit seiner Kritik an dem Fußballspieler mit türkischen Wurzeln vollkommen Recht habe. Es fällt mir auf, dass die Menschen hier in Thüringen einen fränkischen Dialekt sprechen.

      Später berichtet ein Polier davon, wie er mit den polnischen und rumänischen Bauarbeitern auf seinen Baustellen zurechtkommt. Mir drängt sich der Vergleich mit den Zwangs- und Fremdarbeitern der Kriegszeit auf. Menschen 2. Klasse?

      Wegemarkierung Bayern - Thüringen

      Das Zimmer ist okay, aber dass man durch die Tür sehen kann, ob jemand auf der Toilette sitzt, ist nicht so prickelnd …

      Tag 8 (25.05.2018): Von Rieth nach Irmelshausen

      km: 285 – 322

      Nach einem fantastischen Frühstück, das ich so nicht erwartet hätte, samt örtlichen Zeitungsbericht über den Gastwirt und seine Verdienste bei der Reparatur der Kirche, fahre ich den Berg hoch Richtung Zimmerau. Über der Gemeinde thront ein neu erbautes Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs: „ Sie sollen nicht umsonst gestorben sein“ . Was soll man sich dabei denken?

      Ehemaliger Grenzzaun an der Straße -

      zwischen dem thüringischen Rieth und dem bayrischen Zimmerau

      Auf den Bayernturm komme ich leider nicht hoch, weil der eine gewechselte Euro zwar in den Automaten passt, ich aber nicht direkt durch das Drehkreuz gehe, sondern mir den Weg selbst verschließe. Ich sage nur: Mann und Technik …

      Auf dem Weg zum geschleiften Dorf Leitenhausen begegne ich einer holländischen Radfahrerin, die mit vollem Gepäck und ohne elektrische Unterstützung die Grenze entlangfährt, meist nur Straßen, aber immer-hin. Ich komme mir alt vor. An der Saalequelle, fast auf dem freien Feld, ist eine herrliche Kühle, die ich angesichts der Hitze gut genießen kann.

      Bayerturm in der Nähe von Zimmerau

      Der nahegelegene Führungsbunker und B-Turm erlauben wieder eine Auseinandersetzung mit der Grenzgeschichte. Am Telefon erhalte ich eine kurze, wenn auch nicht enthusiastische Auskunft. Besichtigung nur nach Voranmeldung. Wie soll ich das auf einer solchen Tour machen?

      …Auf dem Wege durch den Wald treffe ich auf einen Förster, der sich beim Vorbeifahren bedankt, dass ich angehalten habe. Ich vermute, dass er wegen der Waldbrandgefahr sein Revier kontrolliert hat. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der auch Förster war und im Dezember 1960 durch einen unerfahrenen Schützen aus der Heiligenstädter SED-Kreisleitung zu Tode kam. Weshalb er allerdings zweimal auf meinen Großvater geschossen hat, wurde trotz Gerichtsverhandlung und Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe nie richtig geklärt…

      Geschafft mit letzter Kraft: Kolonnenweg bei Leitenhausen

      Plötzlich eine T-Kreuzung und die bittere Erkenntnis, dass ich auf dem Kolonnenweg bin und mir nichts anderes übrigbleibt, als den Kolonnenweg steil bergan hochzufahren. Hole mein Stativ raus und mache Fotos und ein Video. Die letzten Meter muss ich, um nicht stehen zu bleiben, fürchterlich in die Eisen steigen. Seitdem habe ich wieder Schmerzen im Brustbein, das ich mir bei dem Auffahrunfall im März 2018 gebrochen habe – typisch Mann! Immer Stärke beweisen, koste es, was es wolle. Und das mit knapp 70 Jahren…Man(n) lernt nie aus.

      Nach einer kurzen Abfahrt und einem schönen Tal mit Wiesen und Resten des Drahtzaunes, wo ich erst einmal im Schatten eine Pause mache, kommt die nächste Steigung. Nur noch länger und höher. Aber hier gibt es keinen Ehrgeiz mehr. Es wird ab der Hälfte geschoben. Zum Glück