Die Wiederentdeckung des WIR. Hanz Gutiérrez. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanz Gutiérrez
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753196510
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zu erhalten. Die Liebe ist stärker als der Tod und hartnäckiger als die Zerstörung. Diejenigen, die diese Einstellung übernehmen und sich zu eigen machen, reagieren nicht nur angemessen und rechtzeitig auf die Bitten anderer, sondern schaffen es auch, sich den Antrieb und die Leidenschaft zu bewahren, die für das Überleben und ein besseres Leben notwendig sind. Die Zeit hat sich für beide als Feind und Freund zugleich erwiesen. Sie hat in den aufreibenden Ereignissen ihres Leben den Strom der Leidenschaft, den die Liebe anfangs bei den Verliebten ungestüm hervorruft, zwar verdünnt, ihn aber gleichzeitig auf die Probe gestellt, gestärkt und ihn in Richtung Kreativität und Treue gelenkt. Trotz widriger Umstände und der Brutalität der Geschichte, die manchmal ihren unbeugsamen und unerbittlichen Blick zeigt, konnte ihre Liebe schließlich aufblühen.

      Dieser Roman handelt von Menschen, die sich für Hoffnung statt Verzweiflung entscheiden, für Selbsterkenntnis statt Selbstmitleid und Trauer, für Verbindungen statt Isolation, für kulturelle und religiöse Vermischung anstelle ideologischer und übertriebener moralischer Reinheit. Sie glauben, dass Liebe das Alter und die Zeit, uns selbst und andere, das Verhalten und die Institutionen verändern kann. Der Roman zeigt, dass Liebe keine Illusion und keine bloße Sublimierung von Triebenergien ist. Liebe, die standhält, trägt die Samen der Hoffnung in sich, die gerade in Zeiten der Krise und Verzweiflung wachsen und sich verbreiten müssen. Genau dort, wo wir vor den größten Herausforderungen stehen und alle unsere politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Gewissheiten versagen, kann die Liebe zum Leben erwachen.

      Geschichten wie die von Fermina und Florentino sind nicht nur eine Aufzeichnung dessen, was in der Vergangenheit passiert ist, sondern auch ein Zeugnis dessen, was in der Gegenwart geschieht und in Zukunft wieder geschehen kann. Gegenüber religiösen apokalyptischen Prophezeiungen schrecklicher Dinge sind weltliche Geschichten wie diese implizite messianische Prophezeiungen auf ein resilientes, emphatisches und gemeinschaftliches Leben, das Gott nicht nur den Gläubigen, sondern jedem Menschen frei ins Herz gelegt hat.

      Ein Szenario der Verwüstung, wie es García Márquez erzählt hat, hat sich heutzutage leider auf der ganzen Welt ausgebreitet. Erst weit entfernt in China ist das Virus uns in Europa nahe gekommen und bedrohlich geworden. Die Ankündigung eines flächendeckenden Lockdowns in Norditalien, der Anfang März 2020 beschlossen wurde, um die Verbreitung des Virus zu stoppen, hat in ganz Europa die Befürchtungen geschürt, dass ebenso drakonische Maßnahmen von London bis Berlin getroffen werden – und das ist bald eingetroffen. Die Behörden arbeiten daran, die rasche Ausbreitung der Infektionen mit allen erforderlichen Maßnahmen in einigen der offensten und demokratischsten Gesellschaften der Welt zu verlangsamen, die solche Maßnahmen nicht gewohnt sind, und auf die viele Menschen allergisch reagieren. All die Ungewissheit –gekoppelt mit der Uneinigkeit zwischen Russland und Saudi-Arabien bezüglich der Erdölförderung – hat Anfang März 2020 zu einem „Black Monday“-Effekt geführt, der an den wichtigsten Finanzmärkten der Welt Panik ausgelöst hat. Der Dow Jones-Börsenindex in New York hat Verluste von mehr als sieben Prozent verzeichnet, und der Londoner Index hat mit einem Minus von rund acht Prozent abgeschlossen. Die anderen europäischen und weltweiten Finanzmärkte haben noch größere Verluste verzeichnet.

      Aufgrund der raschen Verschlechterung der Lage hat sich der italienische Premierminister Giuseppe Conte am 6. März 2020 mit einer Botschaft an die Nation gewendet und erklärt, dass über ganz Italien bis zum 3. April eine Ausgangssperre verhängt wird, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Die von der italienischen Regierung auferlegten Einschränkungen sind die drakonischsten, die es jemals in einem demokratischen Staat gegeben hat.

      Auf der anderen Seite des Ozeans hat Präsident Donald Trump in einer Rede an die Nation ein 30-tägiges Verbot für Flüge aus ganz Europa in die Vereinigten Staaten angekündigt, um zu verhindern, dass die Covid-19-Infektionen von Europa übergreifen. Da sich zu dem Zeitpunkt in den USA über 1000 Menschen infiziert hatten und bereits 36 an der Viruserkrankung gestorben waren, hat die NBA, die bekannteste und meistgesehene Basketballliga der Welt, die US-Meisterschaft sofort auf unbestimmte Zeit auszugesetzt, nachdem auch ein Spieler der Mannschaft Utah Jazz positiv auf das Coronavirus getestet wurde.

      Der mit einem Oscar ausgezeichnete Schauspieler Tom Hanks und seine Frau Rita Wilson haben zur selben Zeit in den sozialen Medien bekanntgegeben, dass sie positiv auf das Virus getestet wurden. Aber auch von institutioneller Seite wurde gewarnt: Der Direktor des Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten (NIAID), Dr. Anthony Fauci, der während einer Anhörung im Aufsichtsausschuss des Kongresses über die Herangehensweise an die Coronaepidemie sprach, sagte, man müsse rasch und entschlossen handeln, denn es werde noch viel schlimmer werden. Er hat leider Recht behalten. Mit dem gleichen Tenor, aber mit einer dramatischeren Auswirkung, sagte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, ebenfalls am 6. März auf einer Pressekonferenz in Genf: „Wir haben die Situation untersucht und können Covid-19 als eine Pandemie bezeichnen.“

      Es war bereits damals zu erkennen, dass diese Pandemie nicht nur enorme gesundheitliche und medizinische Folgen mit ebenso schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen haben wird, die verheerend und nicht immer sichtbar und messbar sind, sondern es wird auch für uns alle ein Leben vor der Pandemie und ein Leben nach der Pandemie geben. Unser Leben wird nicht dasselbe sein – es kann nie wieder dasselbe werden. Die existenziellen, psychologischen und anthropologischen Auswirkungen zeichnen eine neue Art und Weise ab, in dieser Welt zu leben.

      Werden wir in der Lage sein, die Botschaft, die sich dahinter verbirgt, zu erkennen? Oder werden – wie so oft in der Vergangenheit – Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit und Automatismen sozialer oder religiöser Art schließlich die Oberhand gewinnen? Die Botschaft, die sich hinter diesen Geschehnissen verbirgt, ist eigentlich sehr deutlich und hat im Wesentlichen mit einigen verlorengegangenen Begriffen – und vor allem der Wirklichkeit, die sie bezeichnen – zu tun: Demut, Langsamkeit, Solidarität und Verletzlichkeit.

      Diese Begriffe bezeichnen in Wirklichkeit die Essenz der Liebe. Haben wir vergessen, was Fermina und Florentino im Geist und in der Seele lebendig gehalten hat? Die Liebe als Motor und Elixier eines jeden Lebens! Ohne Liebe gibt es kein Leben – nur Trostlosigkeit. Sind wir vielleicht – ohne es zu merken – zu überheblich, anmaßend, hastig, selbstbezogen und abgebrüht geworden? Und haben die christlichen Kirchen, die diesem Trend (der eine kulturelle Rückbildung signalisiert) entgegenwirken und ihn aufhalten sollten, ihn nicht leider indirekt und schweigend legitimiert und verstärkt?

      Aber das Leben hat seine Wege und Zeiten, um die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Alles kann plötzlich auf den Kopf gestellt werden. Diese Zeit voller Anomalien und unerwarteter Paradoxien regt uns zum Nachdenken an; sie drängt uns, sich zu besinnen. In einer Zeit, in der der Klimawandel ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht hat, waren erst China und dann zahlreiche europäische Länder gezwungen, die scheinbar unaufhaltbare Industrieproduktion und vor allem den Handel in Geschäften einzuschränken. Diese unerwartete Verlangsamung droht Teile der Wirtschaft zu ruinieren, aber die Umweltverschmutzung geht dabei erheblich zurück. In chinesischen Großstädten war der Anteil von Stickstoffdioxid in der Luft bereits im Februar 2020 um bis zu 30 Prozent gesunken. Die Luft wird besser. Wir verwenden Masken, um uns vor dem Covid-19-Virus zu schützen, aber in Städten atmen wir bessere Luft ein. Das sind Paradoxe, die uns zum Nachdenken anregen.

      Lassen Sie uns kurz auf die Vorteile eingehen, die die erwähnten vernachlässigten Verhaltensweisen mit sich bringen können.

       1. Demut

      Es ist für niemanden leicht, sich in Demut zu üben – insbesondere, weil unsere Entscheidungen, die Wirtschaftsweise und die internationalen Organisationen zu einem unstrittigen Ergebnis geführt haben: einem breiten Wohlstand für viele Menschen wie nie zuvor in der Geschichte. Darauf ist Europa sicherlich stolz jenseits aller Kritik, die geübt werden kann, um diese Euphorie zu dämpfen. Die Geschichte Europas in der Neuzeit ist eine Erfolgsgeschichte. Dieser Kontinent ist zu Recht stolz auf seine kulturellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Errungenschaften. Und vor allem auf sein großzügiges Sozialsystem, das hier im vergangenen Jahrhundert mit Weitblick und Überzeugung entwickelt wurde. Es gibt gute historische Gründe, mit Stolz sagen zu können, dass Europa die