Eine Geschichte aus zwei Städten. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753197937
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sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Staub, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.

      Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Mund von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich geselliges Wesen und die augenfällige Neigung eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, wechselseitigen Toasten, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Die Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein ausgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzspalter setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung. Die Frau kehrte nach ihrem auf der Türschwelle abgesetzten Aschentopf zurück, mit dem sie an sich selbst oder an ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellergeschossen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher stand als der Sonnenschein.

      Es war ein Rotwein gewesen und die Stelle, wo er ausgeflossen war, eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Diejenigen, die sich an den Faßdauben erlabt hatten, zeigten ein getigertes Untergesicht, und ein auf diese Weise beschmierter, langer Spaßmacher, an dessen Kopfseite eine schmutzige, lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort Blut an eine Wand.

      Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.

      Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Kammerherrn des Heiligen – lauter mächtige Edle, namentlich der letztere. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen fröstelnd an den Ecken, gingen in den Häusern aus und ein, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Winde flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet hatten, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem derselben war mit stets erneuten, tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus in den armseligen Linnen, die an den ausgespannten Seilen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhackers fielen. Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäckersimse, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Präparaten aus krepierten Hunden, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerstrebenden Öls gebratenen Kartoffeln.

      Der Tummelplatz war in jeder Beziehung für ihn passend. Eine enge, krumme Straße voll Unflat und Gestank, die in die andern engen, krummen Straßen einmündete, alle bevölkert von Lumpen und Nachtmützen, alle riechend nach Lumpen und Nachtmützen, und in allen sichtbaren Dingen ein düsteres, brütendes Aussehen zeigend. In den abgezehrten Mienen der Menschen war da und dort noch so eine Art Raubtiergedanke von der Möglichkeit eines Widerstandes zu lesen. Wie gedrückt sie auch dahinschlichen, fehlte es ihnen doch nicht an Augen voll Feuer, an zusammengepreßten Lippen, blaß von dem, was sie unterdrückten, und an Stirnen, gefurcht nach Art des Stricks, den zu erdulden oder zu handhaben ihnen beschieden war. Die Geschäftschilde, deren es fast so viele gab wie Läden, zeigten lauter grauenhafte Schilderungen des Mangels. Der Rindvieh- und der Schweinemetzger hatten nur die magersten Fleischstücke, die Bäcker die kleinsten Laibe rauhen Brotes abbilden lassen. Die abgemalten Gäste in dem Schilde der Weinbuden krächzten in hohläugiger Vertraulichkeit über dem spärlich zugemessenen dünnen Wein oder Bier. Nichts war in einem ordentlichen Zustand dargestellt als das Arbeitsgerät und die Waffen; allerdings, die Messer und Äxte waren scharf, die Schmiedehämmer schwer und die Vorräte des Büchsenmachers mörderisch. Das lahmmachende Pflaster mit seinen vielen kleinen Schlamm- und Wasserpfützen hatte keine Trottoirs, sondern begann unmittelbar vor der Tür. Zur Schadloshaltung lief die Gosse durch die Mitte der Straße – das heißt, wenn sie überhaupt lief, und das geschah nur nach schweren Regengüssen, die dann auch gelegentlich durch ihre exzentrischen Kundgebungen die Häuser füllten. In weiten Zwischenräumen sah man quer über die Straßen je eine einzige schwerfällige Laterne an einem Seil und einem Klobenpfahl aufgehangen, und wenn sie dann nachts von dem Lampenwärter niedergelassen, angezündet und wieder aufgezogen wurde, pendelte über den Köpfen eine weit auseinandergezerrte Reihe von düster brennenden Dochten so krankhaft, als wären sie auf dem Meer. Und so konnte man es auch nennen; sie zitterten auf einem Meer, und Schiff und Mannschaft stand in Sturmesgefahr.

      Denn es sollte eine Zeit eintreten, in der die hagern Vogelscheuchen jenes Stadtteils in ihrem Müßiggang und Hunger dem Lampenwärter so lang zugesehen hatten, daß ihnen der Gedanke kam, seine Methode zu verbessern und an jenen Seilen und Klobenpfählen Menschen in die Höhe zu ziehen, damit sie grell hineinleuchten möchten in die Nacht ihrer Lage. Aber die Stunde war noch nicht gekommen, und jeder Wind, der über Frankreich hinblies, schüttelte vergeblich die Lumpen der Vogelscheuchen; die Vögel mit ihrem schönen Gesang und Gefieder ließen sich nicht warnen.

      Der Weinschank war ein Eckhaus von besserem Aussehen als die meisten anderen, und der Besitzer desselben stand in gelber Weste und grünen Beinkleidern vor der Tür und sah dem Kampf um den ausgelaufenen Wein zu. »Geht mich nichts an«, sagte er mit einem schließlichen Achselzucken. »Die Lieferung geschah auf Gefahr des Verkäufers; er mag für eine andere sorgen.«

      Seine Augen fielen zufällig auf den langen Spaßmacher, als er mit seinem Witz die Wand bekleckste, und er rief ihm über die Straße hinüber zu:

      »He, Gaspard, was macht Ihr da?«

      Der Kerl schien in seinem Spaß, wie es bei Leuten seines Schlages gern der Fall ist, große Bedeutung zu sehen, verfehlte aber doch, wie es bei Leuten dieser Gattung gleichfalls oft zutrifft, vollständig seinen Zweck.

      »Was soll das? Seid Ihr denn fürs Tollhaus reif?« sagte der Weinwirt, über die Straße hinübergehend und den Spaß mit einer Handvoll Gassenkot austilgend, den er aufnahm und darüber hinschmierte. »Warum schreibt Ihr das in offener Straße? Gibt es denn – hört Ihr – gibt es denn keinen andern Platz, um solche Worte hinzuschreiben?«

      Während dieser Vorstellung ließ er, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, seine reinlichere Hand in die Richtung von des Spaßmachers Herzen sinken. Dieser klopfte mit seiner eigenen darauf, tat einen hurtigen Sprung in die Höhe und nahm dann die Haltung eines phantastischen Tänzers an, schuppte sich seinen beschmutzten Schuh vom Fuß in die Hand, und streckte ihn aus ... Unter diesen Umständen erschien der Spaßmacher in einer außerordentlich, um nicht zu sagen wolfartig praktischen Rolle.

      »Zieht ihn nur wieder an, zieht ihn an«, sagte der andere. »Bestellt Wein, Wein, und laßt's dabei bewenden.«

      Nach diesem Rat wischte er sich ganz bedächtig seine beschmutzte Hand an dem Kleid des Spaßmachers ab, als sei dieser schuld gewesen an der Verunreinigung, kehrte nach seinem Haus zurück und trat in seine Weinstube.

      Der