Ich war froh, als der Krankenwagen kam. Er brachte mich mit Muttel in das St. Georg-Krankenhaus, wo sie mich zum Schlafsaal der Jungen begleitete. Es war schon dunkel, nur das Notlicht flimmerte rot, aus allen Ecken stieg Schnarchen und Stöhnen hoch. Ich legte mich in das einzige freie Bett und Muttel wollte neben mir sein. Sie hatte Angst, mich allein zu lassen. Die hatte ich nun wirklich nicht. Ich hatte höchstens Angst, dass man von den benachbarten Betten sehen würde, wie ich bemuttert wurde. Weil ich keinen Vater hatte und einziges Kind war, glaubte alle Welt, dass ich ein Muttersöhnchen wäre.
„Schlaf schön!“, sagte sie schließlich. „Wenn du Angst hast, denk an uns. Wir sind immer bei dir!“
Es wäre ihr nicht recht gewesen, hätte sie gewusst, dass ich keinen Gedanken an sie oder Omi verschwendete. Denn ich schlief sofort ein. Allerdings hatte man mir bei der Aufnahme ins Krankenhaus gleich eine Spritze gegeben.
Als ich morgens aufwachte, keuchte und hustete es neben mir. Ich sah wirre Haare und eine geballte Faust, die gegen das Bettgerüst schlug, so dass es schepperte. Er lag mit dem Rücken zu mir und knirschte manchmal mit den Zähne. Dann sprach er wütend in das Kissen, was ich aber nicht verstand. Über dem Kopfende las man auf einem Schild, wie er hieß und wie alt er war: „Karl Zimmermann, geboren am 18.1.1940.“ Dann war er zwölf und ein Jahr jünger als ich.
Als uns das Frühstück auf dem Tablett gebracht wurde, sah Karl mich an. Die großen Augen leuchteten unruhig aus dem blassen Gesicht. Als ob sie mich abtasten wollten. „Warum bist du hier?“, krächzte er.
Ich wollte es nicht sagen, ich konnte es nicht sagen. Bei den Ärzten ging es nicht anders. Sie fragten und ich musste antworten. Aber freiwillig darüber reden? Nie! Und hier war ein fremder Junge. Was sollte er von mir denken? So sagte ich, weil er auf meine Antwort wartete, dass ich einen Leistenbruch hatte. Der kam vom Gewichtheben. Oh ja, versicherte ich, das tat ich regelmäßig und hatte schon ein paar Pokale gewonnen. Keiner würde es mir zutrauen, ich wusste ja selbst, dass ich nicht danach aussah, aber dann wunderten sich alle, dass ich die schweren Hanteln schaffte.
Ich hatte noch nie Hanteln gestemmt, wenn ich auch gerne stark und muskulös gewesen wäre, aber ich sah, wie Karl mir gespannt zuhörte. Leicht kam man in eine Geschichte rein, aber schwer wieder raus, das hatte ich schon oft gemerkt. Jetzt forderte er mich auf, meine Muskeln zu zeigen. Ich winkte ab. Es kam nicht auf die Muskeln an, sondern auf das Knochengerüst. Das musste das schwere Gewicht tragen. Jetzt wäre ich natürlich im Trainingsrückstand, aber das holte ich nach. Und ich redete weiter von meinem Trainer und den Übungseinheiten, bis ich es selbst halb glaubte. Karl glaubte es ganz, das war deutlich. Seine Augen leuchteten mild, beinahe zufrieden. Dann schloss er sie und schlief ein. Wobei er wieder ächzte und stöhnte und sich von einer Seite auf die andere warf.
Er hatte etwas mit dem Herzen und war schon mehrmals operiert worden, sagte die Schwester. Es wäre nicht leicht mit ihm, weil er immer das Schlimmste befürchtete. Ich sollte ihm gut zureden.
Nach dem Essen fragte mich Karl, ob ich Angst vor dem Sterben hätte.
Ich erschrak. Daran wollte ich nicht denken. Ich war doch hier, damit ich bald gesund nach Hause kam.
„Denk nicht daran!“, sagte ich. „Du bist im Krankenhaus und wirst gesund.“
„Bei mir ist es anders!“, stöhnte er. „Mit mir geht es zu Ende!“
„Du musst dir das nicht einbilden“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Es wird schon alles gut werden.“
„Ich bilde es mir nicht ein!“ Er hob den Kopf, der rot geworden war. „Es kommt über mich. Ich kann nichts dagegen machen.“
„Es wird sich schon geben“, sagte ich lahm. Etwas anderes fiel mir nicht ein.
Er sah mich enttäuscht an. „Du glaubst mir auch nicht. Keiner glaubt mir!“
Damit drehte er mir den Rücken zu und vergrub sein Gesicht in das Kopfkissen. Ich sah, dass ein Zucken durch seinen Körper lief und dann schluchzte er. Er tat mir leid.
„Doch!“, rief ich. „Ich glaube dir!“
Aber er hörte nicht auf mich. Er wollte nicht sein Gesicht aus dem Kopfkissen ziehen.
Als die Schwester uns Brei und Früchtetee brachte, drehte er sich zu mir um.
„Glaubst du mir?“
Ich nickte.
„Hast du Angst vor der Hölle?“
Hölle?! Warum fragte er das denn? Natürlich hatte ich Angst vor der Hölle. Nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, hütete ich mich, die Augen auch nur einen Spalt weit zu öffnen. Denn ich war sicher, dass einer der vielen Teufel aus der Hölle nach mir greifen würde. Tagsüber hatte ich jede Menge von Sünden angesammelt. So konnte ich zum Beispiel nicht bei der Wahrheit bleiben. Immer musste ich alles aufbauschen, damit ich im besten Licht dastand. Naschen war auch meine Schwäche. Völlig unmöglich, an der Speisekammer vorbeizugehen! Wobei ich Omis schwache Augen ausnutzte. Leider! Aber am schlimmsten war meine Unkeuschheit. Ich mochte gar nicht daran denken und wusste nicht, wie ich es je beichten würde. Ich konnte ja noch nicht beichten. Ich war zwar schon in der Klasse von Pfarrer Hawighaus, wo wir auf die Erstbeichte und die Erstkommunion vorbereitet wurden, aber das würde noch etwas dauern, weil wir erst am Weißen Sonntag zum ersten Mal zur Kommunion geführt wurden. Es war jedenfalls sicher, das Gott mich dafür bestraft hatte. Er bestrafte mich mit unerträglichen Schmerzen am Pimmel, mit dem ich so oft gespielt hatte. Obwohl ich genau wusste, dass ich es nicht durfte. Und wenn ich das tat, musste ich die Augen zusammenpressen. Ich hätte sonst den Teufel aus der dunklen Ecke auf mich zuspringen sehen.
Ich sagte aber Karl, dass ich mich vor der Hölle nicht fürchtete. Ich nicht! Mir konnte der Teufel nichts anhaben.
„Warum nicht?“ Er sah mich voller Interesse an.
„Weil ich einen Schutzengel habe!“, sagte ich voller Inbrunst.
„Du hast es gut!“, nickte er. „Der kann dich vor der Hölle retten?“
„Und ob! Es ist nämlich meine Schwester, die schon gestorben ist. Die war immer so gut zu mir. Und jetzt ist sie im Himmel und sieht auf mich herab und passt auf, dass mir nichts passiert.“
Er seufzte. Er hatte auch eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Die war auch sehr gut zu ihm, aber nicht im Himmel, weil sie noch nicht tot war. Nein, er hatte keinen, der ihn richtig beschützen konnte. Für ihn sah es sehr schlecht aus.
„Du kommst nicht in die Hölle!“, rief ich aus. „Wie kommst du denn darauf?“
„Weil ich sterben muss“, flüsterte er. Und dann begann er mit seiner Geschichte. Zuerst dachte ich, er wäre wie ich und müsste immer etwas übertreiben, aber dann erzählte er etwas, da konnte man nicht übertreiben, weil es zu ernst war und traurig und gruselig. Ich konnte gar nicht hinhören. Es ging um seinen Stiefvater, den er für einen Mörder hielt. Oh ja, der hatte als Apotheker alle Mittel der Welt, um einen Menschen kaltzumachen, ohne dass die Polizei es merkte. Der perfekte Mord! Wenn er es einem Menschen zutraute, dann ihm. So freundlich war der, konnte lächeln und loben und streicheln. Aber wenn ihm etwas nicht passte, brüllte er los, mit Schlitzaugen wie von einem Chinesen. Ein Herz aus Stein, das hatte er.
Karl fasste sich an die Brust und stöhnte. Der hatte ihn vergiftet und darum war sein Herz so kalt. Genau so wie bei seinem Vater. Der war auch am Herzen gestorben. Weil der Apotheker ihn beseitigt hatte. Nur um seine Mama zu kriegen. Die es nicht einmal mitbekam. Aber eines Tages würde sie es herausfinden.
Seine Augen glühten und sein Gesicht brannte. Hinter ihm griff der Baum mit langen Fingern durch das Fenster. Gleich würde er sie ihm auf den Mund legen, damit er nichts mehr sagte. Wer so log, durfte nicht weiterreden! Er sprach schlecht über die Eltern, das war eine Sünde, selbst wenn es der Stiefvater war. Hoffentlich drehte sich Karl nicht um und sah, was der Baum mit ihm machen wollte! Hoffentlich schwieg er und schlief wieder ein. Aber