“Aha!” sagte ich, während sie ihr kleines orangenes Auto durch den Abendverkehr lenkte. Die Straßen waren voll. Menschen, die alle in der gleichen Arbeitskluft (grau mit grünen reflektierenden Streifen) unterwegs waren, sprangen aus oder in Busse, kreuzten die Straße, standen in kleinen Grüppchen herum, schwatzten, lachten, rauchten, riefen sich Sachen zu. Manche gingen in oder verließen die Restaurants, oder was auch immer hier am Stadtrand als Restaurant durchging - allem Anschein nach war es kurz nach Schichtwechsel.
“Schau sie dir nur an, sie alle führen ein so eintöniges Leben, manchmal könnte ich vor Mitleid weinen. Ihre Ehe- und Beziehungsdramen liefern die einzigen Abwechslungen und das aber immer mit bitterem Beigeschmack. Wie kleine Ameisen, schau sie dir an, sie sehen jetzt in der Dunkelheit sogar alle gleich aus.” Es war Anfang Dezember, es wurde schon um sechs Uhr abends dunkel.
Ich schaute sie mir an, aber nicht, weil sie es mir auftrug, ich hätte sie auch so angesehen. Tatsächlich sahen sie nicht sehr glücklich aus. Dann bildete sich ein Loch in den Wolken und wir hatten freie Sicht auf den letzten Vollmond des Jahres.
“Siehst du das? Hast du es gesehen? Sieh hin! Wie ein Wolfsmond.”
Ich sah schon dort hin. Wieso liebte sie es so sehr, die Ziele für meine Augen zu bestimmen? Wieso konnte sie mich nicht frei wählen lassen, wohin ich meine Augäpfel richtete und was ich ins Visier nahm?
“Schön!” sagte ich und meinte es auch, ich fand es wirklich schön.
“Weißt du, an Vollmondnächten gebären ungewöhnlich viele Frauen, der Mond hat solch eine starke Wirkung auf die Schwerkraft.”
“Aha.” Eine weitere Portion unnützes Wissen. Ich würde nie schwanger werden, auch hatte ich nicht vor noch irgendjemanden zu schwängern. Zwei Kinder, die nichts von mir wissen wollten waren mehr als genug, und die Schwangeren Anderer interessierten mich sowieso nicht. Aber so war sie nun einmal, meine Nachbarin Diana, sie spuckte Wissen aus, wie dieser komische Clown, der auf der Kärtnerstraße in der Wiener Innenstadt Seifenblasen in die Luft bläst.
“Ich weiß was du brauchst!” Sie rief diesen Satz und zog ruckartig am Lenkrad. Das Auto verließ die Straße und blieb nach einer Vollbremsung wenige Zentimeter vor dem Ladenfenster eines OXXO-Supermarktes stehen.
“Warte hier!”, befahl sie. Ich kämpfte immer noch damit, mein Herz zu beruhigen, das mir wegen der brüsken und unerwarteten Wendung und der darauffolgenden Notbremsung gegen den Adamsapfel klopfte.
Sie ging hinein und dann zielstrebig auf die Kassiererin zu. Ein kurzer Wortaustausch fand statt, die Kassiererin deutete auf eine der Flaschen, die ihren Platz hinter der Kasse hatten. Diana schüttelte den Kopf, der Finger wanderte weiter zu einer kleineren Flasche (verflixt!) jetzt nickte Diana. Sie segneten den Handel ab, das Geld wanderte in die Kasse, Diana schnappte sich die Flasche und kam zurück. Sie lachte mir zu, zwinkerte sogar mit einem Auge und als ob das nicht schon genug war, sandte sie mir einen Kuss zu. Ich hatte nur Augen für die Flasche.
“Ich werde auf keinen Fall den ganzen Abend mit so einem mürrischen Kerl an meiner Seite verbringen, nimm, trink!”
Sie sagte mir all das, noch bevor sie zurück ins Auto stieg, reichte mir die Flasche zuerst und setzte sich dann erst hin.
Nun, das waren Befehle, mit denen ich viel eher etwas anzufangen wusste. Ich setzte an und nahm drei große Schlucke.
“Luczizcki, du bist ein Tier, unmöglich bist du! Dass du mir dort ja keine Szene machst!” Ich lachte auf, zum ersten Mal an dem Tag. Genauso wild wie sie von der Straße abgefahren war, fädelte sie sich auch wieder in den Verkehr ein.
4
Entgegen dem, was Diana vorausgesehen hatte, war das “Metropolitano” sehr gut besucht, wir mussten das Auto sehr weit vom Eingang auf einer Wiese parken.
“Was ist da nur los? Unmöglich, dass die Alle wegen der Ausstellung hier sind.” Ich sagte nichts und trank einen weiteren Schluck, dann noch einen und während sie den Motor aus machte und ihre Sachen zusammensuchte, noch einen.
“Jetzt gib mir auch etwas davon! Ich hab es nicht nur für dich gekauft.” Ich reichte ihr die Flasche, sie trank in kleinen Schlucken. Auf dem Weg zum Eingang läutete ihr Handy, sie entschuldigte sich, hob ab, ich stand rum und sah viele schick hergerichtete junge Menschen das lichterfüllte Gebäude betreten.
“Das war meine beste Freundin, sie macht sich Sorgen um mich, du musst wissen, in letzter Zeit verschwinden Frauen hier in Tampico. Erst letzte Woche stieg eine junge Frau in ein Taxi ein, meldete sich noch per SMS bei ihrer Mutter und war dann unauffindbar. Einige Tage später fand man ihre Leiche.”
“Schrecklich, aber ich bin ja bei dir.”
“Luczizcki! Dein erster vollständiger Satz seitdem wir das Haus verlassen haben.” Sie lachte vergnügt. Der Tequila hatte mir mittlerweile die Ohren erwärmt und die Augen befeuchtet.
“Ándale, jetzt versteh ich alles, ¡Dios mío!”, rief sie aus, als wir in den Eingangsbereich des modernen “METRO”, wie es in der Kurzform heißt, eintraten.
“DER NUSSKNACKER, DIE EINZIGE VORFÜHRUNG DES SANKT PETERSBURGER BALLET IN UNSERER STADT!”
War auf Plakaten, die an jeder Säule hingen ausgeschrieben.
“Das müssen wir uns unbedingt ansehen!”, rief meine Nachbarin begeistert.
“Unbedingt!”, rief der Tequila aus mir.
Sie wartete erst gar nicht, sondern ging schnurstracks zu dem Fenster, wo man sich Karten kaufen kann.
“Wo möchtest du sitzen?”, fragte sie mich, als ich sie einholte.
“Ganz oben!”
Danach ging sie aufs Klo. Ich wartete mit den Karten in der Hand und fragte mich, wie es nur so weit kommen konnte. Bevor der „Norte“ Tampico erreichte, war ich ein Mensch, der zwar nicht genau wusste welche Richtung sein Leben am besten einschlagen sollte und was ich mit meiner Zeit und den wenigen verbleibenden Jahren meiner ersten Lebenshälfte (vorausgesetzt ich sollte es bis sechzig schaffen, was ich meines Ermessens nach, als das beste Alter sah um sein Reitgeschirr abzugeben) anstellen sollte. In achtundvierzig Stunden hat mein Leben jedoch eine Wendung genommen, die unerwartet, zuvor unvorstellbar und beängstigend war. Ja, ich gebe es zu, ich fürchtete mich vor dem was vor sich ging. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Zuerst das Buch (ich erfrischte schnell meine Flüche gegenüber Gabriel García Márquez) und jetzt das, eine Kunstausstellung besuchen und in derselben Nacht auch noch ein Ballett ansehen!
`Der Herr sei mir gnädig, hoffentlich bekommt das alles niemand von meinem Stammtisch mit!´ Ich erinnerte mich wieder, dass ich an keinem Stammtisch willkommen war, war mir aber gleichzeitig sicher, dass jeder Barkeeper in Linz mich auslachen und mir aus Spott statt Bier nur noch Radler servieren würde, sollte das jemals an ihre Ohren gelangen.
Aus einem der verschlossenen Räume drang Applaus nach draußen. Ich erinnerte mich vage an den sozialen Zwang, welcher einem bei solchen Veranstaltungen auferlegt wird. Man musste den Artisten und ihre Leistung mit Applaus bedenken. Wozu in aller Welt benötigten sie Applaus? Als ich neben Diana die Sitze auswählte, erhaschte ich einen kleinen Blick auf die Preisliste. Demnach sollten die Artisten uns, denen, die es geschafft haben, sich dieses Geld anzusparen, applaudieren. Eine verrückte und verkehrte Welt war das, mein lieber Mann, und ich war kopfüber, wie durch ein magisches Loch im Boden in sie gefallen. (Bleibe ewig verflucht Gabriel García Márquez, in Ewigkeiten!).
Diana gab den Eindruck ihren ganzen Körper zu duschen. Was machen Frauen sonst so lange im Bad? Man rechne nur die Lebenszeit die eine Frau im Bad verbringt und die der Männer, die mit dem Warten und Starren auf eine