Die Berlinerin. Ilka-Maria Hohe-Dorst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilka-Maria Hohe-Dorst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753192970
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tun?“

      „Sie wohnt in Berlin. In Hanau hatte sie nur beruflich zu tun. Als ich sie zufällig auf dem Markt sah, war sie auf dem Weg zum Bahnhof, um nach Berlin zurückzufahren.“

      Nadja hatte aufgehört zu weinen. „Du Ärmster. Du wolltest mir mein Kleid zurückbringen und musstest deswegen bis nach Berlin fahren?“

      „Ich konnte von dieser Frau schlecht verlangen, dass sie es am Hauptbahnhof in aller Öffentlichkeit auszieht.“

      „Sie hätte in die Damentoilette gehen können.“

      „Und womöglich ihren Zug verpasst …“

      Nadja wirkte jetzt spürbar entspannter. „Wann kommst du nach Hause?“

      „Morgen, Schatz, gleich morgen. Mit dem Kleid.“

      „Ich liebe dich.“

      Erik schluckte. „Bis morgen.“

      Er stellte das Telefon auf die Ladestation zurück und ging in die Küche. Romy war nicht mehr hier. Die beiden Schwenker hatte sie auf einem Servierwagen abgestellt, auf dem auch die Cognac-Flasche stand. Erik nahm die Flasche und einen der Schwenker, goss sich einen ordentlichen Schwung ein und nahm einen tiefen Zug. Besser fühlte er sich danach nicht. Er hatte sich nicht nur von Nadjas Weinen im Handumdrehen entwaffnen lassen, sondern sie auch „Schatz“ genannt, und seitdem beherrschte ihn ein vages Unbehagen, als habe er eine nicht greifbare Schuld auf sich geladen.

      Er fand Romy in ihrem Arbeitszimmer. Sie saß am Computer und bewegte die Maus hin und her.

      „Der Zarenhof in der Schönhauser Allee hat Zimmer zu akzeptablen Preisen frei. Ich habe online für eine Nacht gebucht.“

      Romy schrieb ihm die Reservierungsnummer auf einen Zettel. „Zu Fuß braucht man von hier bis zum Hotel etwa zwanzig Minuten. Ich werde Sie begleiten.“

      „Und dann alleine nach Hause zurückgehen? Das kommt nicht in Frage.“

      „Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind hier nicht im Wilden Westen, sondern in Berlin. Ich bin an das Nachtleben dieser Stadt gewöhnt, und für Berliner Verhältnisse ist es noch früh am Tag.“

      „Schreiben Sie mir Ihre Telefonnummer auf?“

      „Wozu?“

      „Ich will anrufen, um sicherzugehen, dass Sie unbehelligt nach Hause gekommen sind.“

      Romy lächelte nachsichtig. „Hören Sie, Mr. Crazy: Ich brauche schon lange kein Kindermädchen mehr. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und absolut sicher. Kommen Sie morgen zum Frühstück, sagen wir um neun Uhr. Wenn wir damit fertig sind, übergebe ich Ihnen Nadjas Kleid und bestelle ein Taxi, das Sie zum Hauptbahnhof bringen wird.“

      „Also gut, keine Telefonnummer. Dann machen wir es halt umgekehrt, und Sie rufen mich im Hotel an, wenn Sie wieder zu Hause sind. Bitte …“

      Romy schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine Chance, Mr. Crazy. Ich bin für mich selbst verantwortlich, und dabei soll es bleiben.“

      Hart wie Granit, dachte Erik, widersprach aber nicht weiter. Als er eine Stunde später in seinem Hotelzimmer auf dem Bett lag und in die Dunkelheit starrte, fühlte er eine Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung in sich aufsteigen. Nichts war gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte, und wenn er in Gedanken den Tag passieren ließ, kam er sich wie der größte Narr vor, der jemals Berliner Boden betreten hatte.

      Aber was hatte er auch erwartet? Seine Handlungen waren spontan verlaufen, und sicherlich hatte er jedes Mal ein Motiv gehabt. Wie sehr er auch versuchte, scharfe Bilder dieser Motive zu gewinnen, sie blieben verschwommen. Klar war ihm nur eins geworden: Er musste sein Leben ändern. Selbständig werden. Arbeiten. Geld verdienen. Aber wie sollte das ohne Studienabschluss und Berufserfahrung funktionieren? Der Weg zurück zur Universität war ihm aus finanziellen Gründen verwehrt, außerdem würde ihn die Fortsetzung des Studiums Jahre kosten, wertvolle Zeit, die er nicht zu verlieren hatte.

      Während er vergeblich darauf wartete, dass ihn Müdigkeit überkam und entspannte, stiegen wie aus dem Nichts Bilder aus der Vergangenheit in ihm auf, als wollten sie ihm die Augen öffnen, wie das Problem zu lösen sei. Eine wachsende Unruhe erfasste ihn, und das Pochen seines Herzens stieg bis in seine Schläfen. Er verspürte den Drang, aus dem Bett zu springen und irgendetwas zu tun, um seinem inneren Brodeln ein Ventil zu verschaffen. Aber was hätte er hier und jetzt Sinnvolles anstellen können? Er musste warten, bis er wieder in Hanau war, ehe er den Versuch unternehmen konnte, seine noch vagen Fantasien erst in klare Bilder und dann in die Tat umzusetzen.

      Nachdem er dreimal auf seine Armbanduhr gesehen hatte, kam er zu der Einsicht, dass sich nichts im Leben mit einem Fingerschnippen herbeiwünschen lässt. Seine Gedanken begannen langsamer zu kreisen, und allmählich wurde er müde. Gebettet in die Zuversicht, einer Idee zum Greifen nahe zu sein, die seinem Leben eine Wendung geben könnte, schlief er in den frühen Morgenstunden ein.

      Sommersprosse

      Als Erik am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr an Romys Wohnungstür klingelte und sie ihm öffnete, wehte ihm der Duft gebrühten Kaffees entgegen. Sie war in einen jadegrünen Hausanzug gekleidet, der die Farbe ihrer Augen unterstrich. Das Haar hatte sie hochgesteckt, was sie strenger wirken ließ als am Tag zuvor, als sie es offen getragen hatte. Obwohl sie nicht geschminkt war, fand Erik sie unverändert bezaubernd. Mit einem Dankeschön für die Einladung übergab er ihr einen bunten Gerbera-Strauß, den er am Vorabend beim Hotelservice bestellt hatte. Sie quittierte seine Geste mit einem anerkennenden Lächeln.

      Lilly, die in den Flur getrottet war, um ihre Neugier über den Besuch zu befriedigen, schoss bei Eriks Anblick davon und verschwand im Wohnzimmer. Romy kicherte. „Zu ihrem Glück hat Lilly ihr Futter schon bekommen, sonst müsste sie vor Bammel jetzt hungrig in ihrem Versteck ausharren, bis Sie wieder fort sind.“

      Sie winkte Erik, ihr in die Küche zu folgen. Während sie eine Vase mit Wasser füllte und die Gerbera hineinstellte, bestaunte Erik den gedeckten Tisch unter dem Küchenfenster: Schinken, verschiedene Sorten Käse, gekochte Eier, Butter, Marmelade und ein Körbchen mit Toastbrot, Croissants und Laugenbrötchen. Erik konnte seine Verwunderung darüber nicht zurückhalten. „Wo kommen am heiligen Sonntag all die frischen Sachen her?“

      „Meine Nachbarin, die sich um Lilly kümmert, kauft für mich ein, wenn ich auf Reisen bin, damit ich bei meiner Rückkehr nicht auf dem Trockenen sitze. Ich brauchte nur noch die Croissants und die Brötchen beim Sonntagsbäcker bestellen.“

      Romy stellte die Blumenvase auf das Fensterbrett, hob die Glaskanne von der Kaffeemaschine und entfernte den Filter. „Setzen Sie sich.“

      Erik ließ sich auf einem der drei Schalenstühle nieder.

      „War mit dem Hotelzimmer alles in Ordnung?“

      „Alles okay.“

      „Und sonst? Gut geschlafen?“

      „Auch okay.“

      „Konnten Sie noch etwas zu essen aufs Zimmer bekommen?“

      „Kein Problem, das ging schon okay.“

      Romy goss Kaffee in die Tassen, setzte sich Erik gegenüber und bestrich eine Scheibe Toastbrot mit Butter und Erdbeermarmelade. „Okay, okay“, neckte sie ihn, „gestern waren Sie gesprächiger, Mr. Crazy.“

      Obwohl Erik sich auf das Wiedersehen mit Romy gefreut hatte, war er nach seiner durchgrübelten Nacht von seiner Bestform weit entfernt und zu zwanglosem Geplauder nicht aufgelegt. Ihr Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, hellte seine Stimmung keineswegs auf. Vielmehr wirkte ihre Neckerei auf ihn wie der Vorwurf, unhöflich zu sein oder sie sogar provozieren zu wollen, und er fühlte einen Impuls, gereizt zu erwidern, er habe sich einsam gefühlt und Sehnsucht nach ihr gehabt, sei zudem vom Klamüsern über sein bisheriges und künftiges Leben am Schlaf gehindert worden und habe deshalb alles andere als erholsame Stunden hinter sich. Doch bevor er Gefahr laufen konnte, mit etwas Unbesonnenem