„Du meinst, die zweite Stichwunde wurde dem Opfer hier in der Pathologie beigefügt und das Messer lag neben der Leiche?“
„Na Gott sei Dank! Jetzt hast du endlich verstanden, worum es geht. Kümmere dich darum. So eine Schlamperei gibt es bei mir nicht und so etwas dulde ich auch nicht.“ Die nur 1,60 Meter große, stämmige, 62-jährige Frau sah ihn ernst an und fuhr sich mit der einen Hand durch die kurzen, braunen Haare. Man sah ihr an, dass sie entsetzt war über die Tatsache, dass jemand in ihrer Pathologie, die sie gerne als ihr Wohnzimmer bezeichnete, sein Unwesen trieb.
Leo ging zum Tisch und nahm die Akte zu diesem Mordfall in die Hand, die Christine bereits besorgt und auch darin gelesen hatte. Der Mordfall wurde von seiner Kollegin Anna Ravelli bearbeitet und er hielt sehr große Stücke auf sie. Tatsächlich wurde in der Akte nur die eine tödliche Stichverletzung erwähnt. Sowohl von der zweiten, als auch von dem Hirschfänger, stand hier nichts. Außerdem waren die dazugehörigen Tatort-Fotos eindeutig, auf denen ebenfalls nur die eine Stichwunde zu sehen war. Natürlich musste dieser Sache umgehend nachgegangen werden. Aber vorher musste er sich um Christine kümmern, die ihm Sorgen bereitete. Äußerlich war sie zwar knallhart und durchaus bei Kollegen gefürchtet, aber er war einer der wenigen, die wussten, dass sie einen überaus weichen Kern besaß.
„Hast du überhaupt schon gefrühstückt? Und warum um alles in der Welt musst du mitten in der Nacht arbeiten? Dein Arbeitstag beginnt erst um 8 Uhr und von dem Flug gestern musst du doch noch todmüde sein.“
„Papperlapapp, so ein Flug macht mir doch nichts aus. Ich konnte nicht schlafen und da ich gerne in Ruhe arbeite, dachte ich mir, ich fange gleich an, denn ausgeruht habe ich mich zwei Wochen lang. Und nein, gefrühstückt habe ich natürlich noch nicht, es ist ja auch noch keine Zeit dafür.“
Sie kannte Leo nicht nur lange, sondern auch sehr gut. Sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte. Aber sie war in Ordnung. Sie nahm ihn beinahe flüchtig in ihre Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie machte sich umgehend wieder an die Arbeit, denn sie befürchtete noch mehr Fehler und Schlampereien in ihrer Pathologie.
Leo Schwartz ging in sein Büro und zog aus dem Automaten im Flur der Mordkommission Ulm einen starken Kaffee. Er trank diesen langsam und genüsslich, denn sein Magen musste sich nach dem Besuch in der Pathologie erst einmal beruhigen. Er las nochmals ausführlich die dünne Akte des Mordfalls und beschloss, seine Kollegin Anna Ravelli herzubeordern. Wenn das mit der Pathologie an die Öffentlichkeit gelangen würde, gab das mächtig Ärger. Vor allem freute er sich nicht gerade auf die diesbezügliche Unterredung mit seinem Vorgesetzten und entschied daher, ihn so lange wie möglich nicht damit zu behelligen.
Natürlich war Anna nicht erfreut darüber, so früh ins Büro zitiert zu werden, aber Leo machte es dringend. Es konnte kein neuer Mordfall sein, das hätte Leo erwähnt. Was brachte ihn dazu, so früh im Büro zu erscheinen? Und was wollte er von ihr? Sie wurde neugierig und beeilte sich. Nur eine knappe halbe Stunde später stand sie gegen 5.00 Uhr in der Tür. Trotz der knappen Zeit sah die 29-jährige, 1,75 Meter große, sportliche Frau mit den langen, schwarzen Locken ausgeruht und frisch aus.
„Guten Morgen Leo! Ich hoffe, du hattest einen schönen Urlaub.“
„Guten Morgen Anna. Schön, dich zu sehen. Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dich aus dem Bett geholt habe. Ja, ich hatte einen schönen Urlaub. Ich habe dir sogar etwas mitgebracht, das habe ich aber zuhause vergessen. Bekommst du morgen.“
„Kein Problem. Stefan hat Bereitschaft und musste sowieso zur Arbeit.“
Natürlich! Daran hatte Leo nicht gedacht, als er Anna anrief. Stefan Feldmann, Leiter der Spurensicherung Ulm war der Lebensgefährte seiner Kollegin Anna. Er selbst hatte veranlasst, dass sich die Spurensicherung umgehend die Pathologie vornehmen soll.
Leo unterrichtete seine Kollegin ausführlich über das, was er in der Pathologie mit eigenen Augen gesehen hatte. Anna konnte nicht fassen, was sie hörte.
„In unserer Pathologie? Das kann nicht sein.“
„Erzähl mir von dem Fall.“
„Das Opfer wurde mit einer Stichwunde tot aufgefunden, den genauen Fundort ersiehst du aus den Unterlagen. Die Tatwaffe wurde nicht gefunden, obwohl das ganze Areal akribisch abgesucht wurde. Wir haben einwandfrei gearbeitet.“
„Beruhige dich, ich glaube dir ja. Ich habe die Fotos gesehen und bin davon überzeugt, dass sich jemand an der Leiche in der Pathologie zu schaffen gemacht hat. Was weißt du über das Opfer?“
„Das Opfer ist Karl Rauschberger. Bei dem 57-jährigen Mann handelt es sich um einen Obdachlosen, der nur Der Lehrer genannt wurde. Ich vermutete eine Tat im Affekt nach einem Streit. Es könnte sich auch um Raubmord handeln. Die Habseligkeiten des Opfers waren sehr dürftig. Wir wissen nicht, ob etwas fehlt.“
„Angehörige? Zeugen?“
„Nein, keine Familie und keine Zeugen. Wir haben wirklich sauber gearbeitet, das musst du mir glauben.“ Anna war verunsichert, denn das war der erste Mordfall, den sie eigenständig bearbeitete. Die versprochene Vertretung für die Dauer von Leos Urlaub war zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Ulm erschienen. Er hatte es nicht nötig gehabt, sich bei ihr zu melden. Erst nach drei Tagen stand er plötzlich in der Tür. Anna war stinksauer und hatte auf seine weitere Mithilfe verzichtet und den Fall alleine übernommen.
„Ich zweifle nicht an dir. Trotzdem können wir das, was in der Pathologie geschehen ist, nicht ignorieren. Wir sollten uns nochmals das Umfeld des Opfers genauer vornehmen. Für mich sieht es so aus, als wenn da jemand eine Stinkwut auf den Mann hatte.“
„Oder wir haben es mit jemandem zu tun, der komplett irre ist. Welcher normale Mensch verschafft sich unbefugten Zugang in die Pathologie, sticht dann auf einen Toten ein und lässt das Messer neben der Leiche liegen?“
„Der Hirschfänger ist bereits bei der Spurensicherung, die nehmen sich auch die Pathologie wegen eventueller Einbruchspuren vor. Hoffentlich finden sie verwertbare Spuren. Ich möchte nicht daran glauben, dass das irgendeiner aus unseren Reihen gemacht hat.“
„Das ist absoluter Blödsinn, niemand von der Polizei oder der Pathologie würde so etwas tun. Diese Möglichkeit sollten wir zuerst ausschalten. Ich checke Lieferanten, Reinigungspersonal usw., eben alle, die Zugang zur Pathologie haben.“
„Dann übernehme ich die Befragung der Kollegen.“
Nach drei Stunden mühsamer Befragungen waren sie zwar keinen Schritt weiter, aber erleichtert über die Tatsache, dass sich bei den Befragungen keine Verdächtigen herauskristallisierten. Christine hatte ihre Mitarbeiter bereits ins Gebet genommen. Für sie stand fest, dass es keiner von ihnen gewesen war.
„Hol deine Jacke Anna, wir hören uns bei den Obdachlosen um.“
Anna Ravelli setzte sich hinters Steuer. Durch den Mordfall, der erst vor wenigen Tagen geschehen war, kannte sie nicht nur den Tatort, sondern auch die einschlägigen Plätze, wo sich die Obdachlosen in Ulm aufhielten.
Leo sah sich am Waldrand um. Hier wurde die Leiche Rauschbergers gefunden. Weit und breit war niemand zu sehen.
„Dort lag die Leiche. Da hinten ist der Waldweg. Wir haben keine Spuren gefunden.“
Leo ging den Tatort mehrmals ab. Wie kam Rauschberger hierher?
„Lass uns fahren,“ sagte er.
„Mach dich darauf gefasst, dass wir nicht mit offenen Armen empfangen werden.“
Tatsächlich waren die Befragungen sehr zäh und äußerst anstrengend, denn nicht alle Obdachlose waren kooperativ und freundlich. Aber Leo hatte eine Engelsgeduld und erfuhr durch seine Art der Befragung weit mehr, als Anna erfahren hatte. Das 52-jährige Opfer Karl Rauschberger wurde hier nur der Lehrer genannt, da er tatsächlich Geschichte- und Englischlehrer war, bevor