Jene Frau springt unvermutet auf und tritt an die ältere Dame heran.
»Ich bring den Zettel mal für Sie nach vorn?! Sie sind doch fertig, oder?«, fragt sie viel zu laut in Markus’ Ohren.
»Oh, das ist sehr lieb. Vielen Dank«, erwidert die Ältere.
Markus fragt sich sofort, wie unangenehm das womöglich gerade dieser älteren Dame sein möge. Aber schnell ist diese Fiktion verdrängt, dieser Ausflug in Empathie.
Für viele Fragen und kleine Tests musste Markus zu zwei verschiedenen Arzthelferinnen. Jetzt sitzt er im Gang, direkt vor dem Zimmer des Arztes, und wartet auf sein abschließendes Gespräch. Zwei Stunden sind mittlerweile vergangen, aber er ist froh, geblieben zu sein. Neben ihm sitzt nun die ältere Dame, manchmal lächelt sie ihn an, wenn er gelangweilt durch den Raum blickt.
Geschickt, aber mit großer Anstrengung, rafft sich die Frau auf und tippelt hinüber zur Toilette. Markus hört immer wieder die tiefe Stimme des dümmlichen Weibes. In dem Moment, als Markus mit sich selbst debattiert, wie die Dame mit dem sperrigen Rollator jetzt auf die Toilette kommt, springt das Schandmaul auf und geleitet sie hinein. Dann versichert sie ihr, sie würde ihr auch wieder heraushelfen, sie müsse nur an die Türe klopfen. In der Zwischenzeit setzt sie sich wieder in den Gang, sagt mit einem rauchigen Lachen: »Tja, irgendwann sind wir auch mal so alt!«
Markus ist verwundert und wird aufgerufen. Alle Fakten seines momentanen Zustandes werden besprochen, er erhält einen neuen Termin und fährt nach Hause.
Am nächsten Morgen setzt er sich um 6:15 Uhr in die Bahn und fährt zur Arbeit. Kurz bevor er seine Haltestelle erreicht hat, steigt ein Mann mit Glatze und merkwürdig roter Haut hinzu.
Immer wieder hebt der Mann seinen Arm und setzt seine morgendliche Flasche Feldschlößchen an. Als Markus aussteigt, blickt er noch in das Gesicht des Mannes. Es wirkt eingefallen, verbraucht und älter, als der Mann wohl wirklich ist. Seine Augen strahlen Stumpfsinn und eingeschlafene Toleranz aus.
Markus schaut noch einmal auf das Bier und denkt bei sich: ›Jetzt ist die Welt wieder vertraut.‹
Mike
Er weiß selbst, wie viel Schuld er an allem hat. Ist sich bewusst, wie sehr er sich immer wieder neben der Spur befand. Wie er mit der Hand zum Schlag ausholte, traf und das Blut aus ihrer Nase lief.
Meistens traf er ihre Nase. Sie stand schon nicht mehr gerade, wurde dank unzähliger Brüche mehrmals genäht und gerichtet. Seinen heftigsten Wutausbruch durchlitt sie, als zum Sonntagabend das Bier alle war, kurz vor einem wichtigen Spiel der deutschen Nationalmannschaft. Voller Wut im Körper fischte er nach ihren blonden Haaren, zerrte sie durch das Wohnzimmer, schlug ihr ins Gesicht und stieß sie im Flur die Treppe zur Eingangstür hinab. Julia war längst bewusstlos, denn in Mikes Ohrfeige hatte all sein Hass gelegen und sie ausgeknockt. Mit zwei Überschlägen rollte sie über ihren Rücken die Stufen hinab, schlug mit ihrem Hinterkopf gegen die Tür und blieb liegen.
Mike schnaubte, spürte eine tiefe Unruhe in sich und wandte sich ab. Das Blut, das Julias Haare rot färbte, bekam er schon nicht mehr mit. Längst stand er vor der Vitrine und schraubte die Flasche billigen Whiskys auf. Eingeschenkt wurde randvoll, er platzierte sich in Seelenruhe auf dem grauen, abgenutzten Sessel und das Spiel begann.
Verloren. Ein Debakel. Schlappe fünf zu null. Nichts an Kampfgeist, an Männlichkeit und Aggression zum Siegen hatte man erkennen können.
Als er im Flur ankam, blickte er die Treppe hinab. Keine Julia lag mehr da, nur noch eine verschmierte Blutspur am Türholz war zu sehen.
›Viel Mühe kann sie sich beim Wegmachen nicht gegeben haben!‹, dachte Mike bei sich und stieg hinab, spazierte hinein in ihre kleine, düstere Küche.
Julia saß am Tisch, rauchte am offenen Fenster eine Kippe und schaute lächelnd zu Marie, ihrer gemeinsamen Tochter. Vor wenigen Wochen war sie gerade einmal fünf geworden. Er mochte ihr Lächeln und die süßen braunen Löckchen. Ja, ganz sicher, Marie war seine Tochter!
Mike stellte sich neben Julia, schlug ihr die Kippe aus der Hand und schrie sie an: »Seit wann rauchst du vor Marie? Willst du sie umbringen? Marie braucht so ein Scheißleben nicht auch zu führen.« Er unterbrach sich, beschaute kurz Marie und blickte dann in Julias Augen. Sie war nicht anwesend, sie träumte sich weg, wollte nicht hier sein, versuchte nur, diesen Tag zu überstehen.
Mike holte aus und schlug ihr mit dem Handrücken wieder einmal auf die Nase, es knackte kurz und langsam tropfte dunkelrotes Blut auf ihre neue Jeans.
»Und wehe, du weinst noch einmal vor unserer Kleinen!« Mike griff nach seinem Portemonnaie und reichte Julia ihre Krankenkarte. Sie stand sofort auf und verschwand mit dem Auto im Krankenhaus.
Mike stellte Marie ein geschmiertes Brot hin, tätschelte ihren Kopf und begab sich auf den Dachboden.
Auf einem Balken lag ein Strick mit einer Schlaufe versteckt. Fest und rau. Mike stellte sich auf seine Zehenspitzen und zog den Strick herab. Mit dem rechten Bein ruderte er nach einem kleinen roten Bänkchen, richtete es aus und stellte sich darauf. Mit seinem Kopf schlüpfte Mike durch die Schlaufe und verharrte.
Hin und wieder reichten ihm wenige Minuten, meistens aber dauerte die Prozedur länger. Diese Nacht stand er bis zum Morgengrauen so da, schlief nicht ein, brachte sich nicht um. Stand einfach nur so da, fühlte sich taub, hasste sich selbst. Und wünschte sich, Julia besäße die Kraft, ihn gemeinsam mit Marie zu verlassen.
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