Doch schon einen Moment später wusste ich, dass meine Befürchtungen falsch waren. Tommy würde mich und uns niemals unter Druck setzen und ich glaube, auch Sanne würde mich nicht hänseln, wenn ich es nicht täte, obwohl sie manchmal ziemlich gemein sein konnte. Und von ihrer neuen Freundin konnte ich es mir auch nicht vorstellen, wenn ich auch nicht recht wusste, warum. Und dann fing Tommy an zu reden, und obwohl ich ja nun seine Art bereits kannte, haute es mich wieder mal um, was er da so von sich gab.
„Freunde“, sagte er, „das Bungee-Jumping ist eine uralte Sache. Erfunden wurde es von einem Volk auf Vanuatu, einem Inselstaat im Pazifik und es geht die Legende, dass eine Frau auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Mann auf einen hohen Baum geklettert war. Der Mann folgte ihr, und in ihrer Panik sprang sie hinunter. Der Mann dachte, was sie kann, kann ich auch und sprang hinterher. Doch sie hatte sich mit einer Liane gesichert und wurde kurz vor dem Boden abgefangen, während er zu Tode stürzte.“
Er lächelte und schaute von einem zum anderen.
„Dieser Legende huldigt man dort bis heute mit einem jährlich wiederkehrenden Fest. Die jungen Männer stürzen sich von einem hohen Gerüst bis zu dreißig Meter in die Tiefe. Dabei kommt es sogar darauf an, dass die Springer mit dem Kopf den Boden berühren, ohne sich zu verletzen!“
Wir sahen ihn vollkommen verblüfft an. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Erst recht nicht, dass Tommy all dies wusste.
„Und jetzt vergleicht das mal mit dem Hi-Tech-Zeug hier! Da wird alles genau berechnet, das Spezialseil wird genau für die Größe und das Gewicht des Springers ausgewählt, und die Sicherungen sind narrensicher. Wenn man das selbst kontrolliert, ist die Sache völlig ungefährlich! Wenn ein Springer auf Vanuatu da oben steht, vertraut er auf die Macht der Götter! Was ist also gefährlicher?“
Er sagte das so, als ob mein Lehrer Schulz mir was vom Brutverhalten des Stichlings erzählen wollte. Ich kam mir richtig klein vor im Vergleich zu Tommy. Er wusste so vieles und hatte dabei sogar die Gabe, es nicht so erscheinen zu lassen, dass man dachte, man wäre blöd.
Sanne und Janine sahen ihn halb ehrfurchtsvoll, halb bewundernd an. Das gab mir einen kleinen Stich ins Herz, aber dann sagte Sanne etwas, das mir wieder gut tat. Sie nahm meinen Arm und blickte Tommy fest an.
„Du kannst gerne springen, aber ich will nicht, dass Joe springt.“
Tommy lächelte sie an und beruhigte sie.
„Wenn du mich erst näher kennst, wirst du merken, dass ich es niemals zulassen würde, dass irgendeiner meiner Freunde etwas tut, was er nicht von sich aus tun möchte. Im Gegenteil, ich würde immer versuchen, ihn davon abzuhalten. Und bei euch ist das sowieso etwas ganz Besonderes, denn ich mag euch.“
Wir waren alle von seinen Worten getroffen, denn wir kannten ihn ja noch gar nicht richtig. Hätten wir uns schon jetzt getraut, ihm so etwas zu sagen? Keiner bekam ein Wort heraus. Schließlich drehte sich Tommy um, kletterte über die Absperrung und schlenderte zur Anmeldung. Völlig hilflos schauten wir zu, wie er bezahlte und als nächster auf die Plattform hinaufgezogen wurde.
Ich schaute nach oben. Da stand er, mit beiden Füßen sicher am Rand der Plattform, hob die Hand zu einem unmerklichen Gruß, der ausschließlich uns galt, und ehe wir die Luft anhalten konnten, ließ er sich fallen, den Kopf nach hinten, die Arme ausgebreitet, und kein Schrei noch sonst irgendein Laut kam über seine Lippen, als er stolz und mit durchgedrücktem Rücken nach unten flog.
Als das Seil nicht weit von uns mit Tommy ausschwang, sah ich einen glücklichen Ausdruck in seinem Gesicht. Die Augen geschlossen und beinahe schwerelos schien er zu träumen.
Und ich meinte zu wissen, wovon er träumte. War es nicht für einen Moment lang so, als würde er sein Vater sein, von einer hohen Klippe auf Teneriffa hinunter ins Meer stürzen, mutig und stolz, frei zu sein?
Das Haus
Für den nächsten Tag hatten wir verabredet, uns das verlassene Haus näher anzusehen. Tommy hatte den Mädchen einfach so davon erzählt.
Erst war ich stinksauer, hatte ich mich doch darauf gefreut, mit Tommy genau wie mit Andi früher allein durch dieses wilde Grundstück zu streunen und zu versuchen, das Haus zu erobern. Aber nach und nach freundete ich mich doch damit an, dass wir nun zu viert waren. Nicht etwa wegen meiner Schwester, nein, Sanne hätte von mir aus sechs Mal die Woche zum Ballett gehen können, die war sowieso nur im Weg. Ich dachte dabei eher an Janine, und ich wusste noch nicht einmal so genau, warum. Nicht, dass ich mich verliebt hätte, aber ich fühlte mich ziemlich wohl in ihrer Nähe. Das kann ich jetzt sagen, wo ich es aufschreibe, lange nach der Zeit mit uns Vieren, aber damals hätte ich natürlich alles vehement abgestritten.
Na, wie dem auch sei, ich traf zuerst bei Tommy ein, bei dem wir uns alle verabredet hatten. Das war ja auch nicht weiter schwierig, wohnte er doch nur eine Treppe über mir. Sanne wollte noch auf Janine warten.
Als ich geklingelt hatte und er die Tür öffnete, bekam ich große Augen. Tommy stand mir gegenüber, hatte einen großen Rucksack geschultert, eher die kleinere Ausgabe eines Seesacks, und in der Hand hielt er ein gebogenes Schwert.
Jever sprang mir wie immer in die Arme, und das lenkte mich erstmal ab. Kopfschüttelnd wehrte ich die nassen Leckattacken des kleinen Wirbelwindes ab und folgte Tommy in sein Zimmer. Allerdings erst, nachdem wir geduldig auf Lazy gewartet hatten, der sich sichtlich sauer die Treppe hinaufgeschleppt hatte.
„Woher hast du das denn?“, fragte ich, auf das Schwert oder den Säbel zeigend.
„Das ist eine Machete aus Madagaskar“, antwortete Tommy. „Die hat mir mal Man... , ich meine Jessie, mitgebracht. Du weißt, Jessie malt und verdient auch sein Geld damit. Er reist oft in die exotischsten Länder, um dort nach Motiven zu suchen. Die hier hat er von einer Familie aus Madagaskar als Bezahlung für ein Bild bekommen, das er von ihnen gemalt hat. Statt Geld. Es ist eine echte Machete, und man muss vorsichtig mit ihr umgehen, sie ist verdammt scharf.“
Er griff sich ein auf seinem Bett liegendes Futteral und steckte die Machete hinein.
„Hier ist sie sicher. Du hast gesagt, das Grundstück ist voller Brombeeren und Sträucher, da könnten wir das Ding vielleicht gut gebrauchen.“
Ich nickte, war aber skeptisch. Wenn ich so ein Ding hätte ...
„Und Jessie? Weiß er, dass du sie mitnimmst?“
„Ich habe ihn gefragt, und er hatte nichts dagegen. Ihr müsst nur weit genug von mir wegbleiben, wenn ich damit rumhacke.“
Ich dachte, toll, mein Vater hätte einen Anfall bekommen, wenn er gewusst hätte, dass wir so ein Ding mit uns rumschleppen wollten. Bei der schlechten Laune, die er dauernd hatte, durfte ich ihm auf keinen Fall was von dem Ding sagen. Ich zeigte auf Tommys Rucksack.
„Und was ist da alles drin?“
Er stellte das Ding auf den Boden, setzte sich aufs Bett und öffnete die Verschlüsse. Dazu machte er ein geheimnisvolles Gesicht und weidete sich an der Spannung, die mir wohl deutlich anzusehen war. Schließlich griff er ein halbes Dutzend Mal hinein und holte unglaublich viel Zeugs heraus.
Zuerst erschien ein Fernglas, danach ein dickes und klobiges Schweizer Taschenmesser, ein Kompass, eine Taschenlampe, eine kleine Wasserwaage, dann vier Halbe-Liter-Flaschen Mineralwasser - natürlich mit wenig Kohlensäure - und zum Schluss noch zwei große Tüten Chips, selbstverständlich die ohne Spielereien, die dünnen nur mit Salz.
„Die müssen wir uns teilen“, grinste Tommy. „Vier von den Tüten gingen da beim besten Willen nicht rein. Da sind nämlich auch noch zwei Handtücher drin. Aber ich bin ja nicht so, ich geb euch was ab“, meinte er gnädig.
„Handtücher?“
„Heute wird's heiß. Wir werden schwitzen.“