Samuel, der Tod. Nadja Christin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadja Christin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847697251
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einem weiteren, gewaltigen Zug an der Zigarette nimmt er einen großen Schluck Whisky. Ölig läuft der Alkohol ihm über die Zunge, löst einen kleinen Waldbrand in seiner Kehle aus.

      »Ah …« Samuel streckt die langen Beine von sich.

      Mit einem Mal steht Charlie neben ihm und nimmt sich ebenfalls eine Gauloises. Allerdings inhaliert er nicht so tief wie Samuel, die Erfahrung hat er einmal gemacht, auf eine Wiederholung ist er nicht scharf.

      Kein Mensch sollte versuchen einen Sensenmann nachzuahmen, das kann nur schlecht enden.

      Eigentlich sollte überhaupt kein Mensch dem leibhaftigen Tod zu nahe kommen, doch Charlie ist froh, dass er Samuel vor etlichen Jahren traf.

      Er war von London nach Paris gekommen, der Liebe wegen.

      Auf einem Ausflug lernte er ein junges Ding kennen, die bei einer Londoner Familie das Au-Pair-Mädchen spielte. Sie verliebten sich in einander und als die Kleine zurück sollte, zog Charlie einfach mit. Das Ganze ging nur ein paar Monate gut und das Mädchen setzte ihn wegen eines Anderen vor die Tür.

      Da stand der Junge nun, ohne Wohnung, ohne Geld und ohne einen Funken Hoffnung. In England hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen, er konnte nicht zurück. In Paris hatte er noch nicht richtig Fuß fassen können. Zuerst zog er von Unterkunft zu Unterkunft, besorgte sich Hilfsarbeiterjobs und mogelte sich irgendwie durch. Dann endlich hatte er genug Geld zusammen, dass er die Kaution für eine Wohnung und die erste Miete aufbringen konnte.

      Auf dem Weg zu seinem Vermieter, um den Vertrag zu unterzeichnen, wurde er überfallen. Die Kerle schlugen ihn Krankenhausreif und stahlen ihm seine gesamte Barschaft.

      Nun sah Charlie wirklich keine Lösung und keine Hoffnung mehr. Beladen mit Krankenhausschulden, ohne Job und Dach über dem Kopf, gab es für ihn nur noch einen Ausweg: Er besuchte seine alte Flamme ein letztes Mal, doch sie warf ihn gleich aus der Wohnung.

      Wie ein Sünder schlich er des Nachts zum Eiffelturm und stürzte sich von dem berühmten Bauwerk.

      Sein Flug schien eine Ewigkeit zu dauern, er dachte in seinen letzten Sekunden nur darüber nach, wie es sich wohl anfühlen wird, wenn er auf dem unerbittlichen und harten Asphalt aufschlägt. Wird sein Körper aufplatzen, wie eine übervolle Tüte? Werden seine Gedärme umher spritzen und die Straße besudeln? Wird es sehr schmerzhaft sein? Er machte sich innerlich für den Aufprall bereit.

      Was er aber dann spürte, verwunderte Charlie so sehr, dass er einen hohen Schrei ausstieß.

      Er landete in den Armen von Samuel, anderthalb Meter über dem harten Boden, über den er schon sein Blut fließen sah. Der Tod stellte ihn wieder auf seine Beine, die ihn gar nicht tragen wollten, so zitterig und weich waren sie. In kurzen Worten erzählte Samuel, wer er ist und dass Selbstmord keine Lösung, aber vor allem eine Todsünde sei. Sie redeten die ganze Nacht und als der Morgen graute, war Charlie wieder so weit hergestellt, dass er zumindest einwilligte, bei Samuel mindestens eine Woche zu bleiben. Dann würden sie weitersehen.

      Aus der Woche sind inzwischen zehn Jahre geworden. Charlie hat einen guten Job als Koch in einer Kantine. Zuerst blieb er bei Samuel wohnen, aber nach zwei Jahren zog er mit seiner neuen Freundin zusammen. In der Zeit blieb er dennoch immer mit dem Tod in Kontakt, sie wurden gute Freunde. Erst als nach fünf Jahren auch diese Beziehung in die Brüche ging, zog er wieder bei seinem alten Freund ein.

      Es ist schwierig, in Paris ein gutes und bezahlbares Zuhause zu bekommen und Sam ist nicht abgeneigt, von seinen Aufträgen in eine aufgeräumte Wohnung zurückzukehren und wenn es noch ein gutes Essen gibt, ist er mehr als erfreut.

      Charlie nimmt die Fernbedienung und dreht Alice Cooper mitten im Satz den Saft ab. Nun rockt der alte Musiker nur noch stumm über die Mattscheibe.

      Fasziniert starrt Samuel auf den Fernseher, obwohl er nichts mehr vom Coop hört, so wäre er doch in der Lage, jede Textzeile von Feed my Frankenstein mitzusingen, wenn ihm danach zu Mute ist.

      »Hey, der Song war gut.«

      Charlie zeigt mit dem Daumen hinter sich.

      »Essen ist fertig, Sam. Kommst du, oder soll ich es … an Frankenstein verfüttern?« Er grinst breit.

      »Okay.«

      Ächzend erhebt sich Samuel und gemeinsam setzen sie sich an den gedeckten Tisch.

      Sein Geruchssinn hat ihn nicht getäuscht, Charlie hat Schweinebraten, Kartoffeln und dazu einen Salat angerichtet, nur das süße Dessert fehlt noch auf dem Tisch.

      Mit Heißhunger fällt der Tod über das köstliche Nachtmahl her, er hatte ganz vergessen, dass er so einen großen Hunger hatte.

      »Schmeckt köstlich, Charlie«, meint er irgendwann zwischen zwei Bissen.

      Der Junge beobachtet ihn genau, er kennt Samuel nun schon eine geraume Zeit, aber mit so einem Appetit hat er ihn selten essen sehen.

      »Ist es heute nicht so gut gelaufen?«, erkundigt er sich, als er schon lange satt ist und Samuel sich seine dritte Portion aufdeckt.

      Mit vollem Mund schüttelt er nur den Kopf, spült mit einem Mineralwasser den Rest hinunter.

      »Nein, Charlie, nicht wirklich. Selbst bei Francesco hatte ich das Gefühl, als läuft irgendwas furchtbar schief.«

      Der Junge zündet sich eine Zigarette an.

      »Was hat der alte Pfaffe denn gesagt?«

      Ein strafender Blick aus Samuels feurigen Augen trifft ihn. Aber auch wenn der Tod es wollte, so könnten seine höllischen Augen dem Jungen nichts anhaben – Der ist längst für die Hölle bestimmt, nur den Zeitpunkt kennt niemand, noch nicht einmal der Tod selbst.

      Um einer gottesfürchtigen Diskussion aus dem Weg zu gehen, fragt Charlie rasch:

      »Lust auf einen Nachtisch, Sam?«

      »Was hast du denn anzubieten?«

      Grinsend steht Charlie auf, nimmt die Teller mit und werkelt in der Küche herum.

      »Lass dir Zeit«, meint Samuel. »Ich rauche erst noch eine.«

      Gerade als er die Zigarette wieder ausdrückt, kommt Charlie zurück und serviert einen riesigen französischen Eierflan.

      Die Lampe, die knapp über dem Esstisch hängt, spiegelt sich in der glänzenden, karamellisierten, Schicht des Flans. Die Vanillecreme biegt sich unter der dicken Karamelldecke.

      »Wow«, sagt Samuel. »Wie kommst du denn darauf?«

      Charlie zuckt mit den Schultern.

      »Hab ich im Internet gelesen, ich wollte es mal ausprobieren.«

      Mit einem scharfen Messer schneidet er ein großes Stück für seinen Freund ab und legt es auf einen Teller.

      Sein eigenes Stück ist um ein vielfaches kleiner.

      »Willst du mich mästen?«, fragt Samuel empört und schlägt sich selbst auf den flachen Bauch.

      »Quatsch nicht. Los! Probieren!«

      Samuel schiebt sich unter Charlies aufmerksamen Augen den ersten Löffel Eierflan in den Mund. Die Karamellmasse kracht und knackt, er hört es sogar in seinen Ohren, die Vanillemilch läuft cremig über seine Zunge. Zusammen ergibt das eine herrliche Komposition.

      Dennoch meint Samuel nach dem ersten Löffel:

      »Mach demnächst wieder was Englisches … das kannst du besser.«

      »Echt? Ist er so mies?« Hastig stopft er sich den ersten Bissen in den Mund.

      Samuel grinst über das ganze Gesicht.

      »Das nennt man wohl eine Verarschung.«

      »Arfoch …«

      Charlie versucht zu lachen, aber mit vollem Mund geht das genau so wenig, wie sprechen.

      *

      Kurz