Jennings, Erdprotektor. Joachim Reinhold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Reinhold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738002621
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hinter Gittern sitzt und Whitehall sich für die Misshandlungen entschuldigt hat.

      Der Morning Scandal ist journalistisches Toilettenpapier erster Sahne. Kein gesunder Mensch gibt zu, das Klatschblatt zu kennen, dennoch erfreut es sich unter pseudointelligenten Mobbern und bei sensationsgeilen Kaffeekränzchen großer Beliebtheit. Sprich, bei Leuten wie meinem Dekan und meiner Tante. Statt den Zeitungsjungen präventiv mit meiner Steinschleuder zu erlegen, habe ich mit meinem übereilten Sprint Tante Daisy genügend Zeit verschafft, ihren abonnierten Müll zu lesen.

      »Thomas Kyle Jennings!«, kreischt sie, als ich das Gartentor erreiche. »Sofort hierher!«

      Meine Tante ist von der Rolle und schlägt mir die Zeitung ins Gesicht. Ein Werbeprospekt des neuen Tuntenkinos in South Norwood segelt zu Boden.

      »Was hat das hier zu bedeuten?«

      Meint sie Bellatreccias Lügen oder die Damen mit dem gewissen Extra zwischen ihren epilierten Beinen? Ich erspare mir jeden Humor und lasse den Kopf hängen. Mein Kartenhaus aus Lügen bricht über mir zusammen. In kurzen, verständlichen Worten berichte ich über mein Erlebnis und bete, Tante Daisy würde ihren Verstand gebrauchen. Zwecklos. Ohne Vorwarnung schlägt sie zu, in meiner Nase platzen die Äderchen und Blut spritzt auf ihre blütenweiße Bluse.

      Mit nie vermuteter Wucht stoße ich Daisy zu Boden, springe über sie hinweg und renne die Treppe hoch ins Badezimmer. Ich heule wie ein Schlosshund und wasche mir das Blut aus dem kreideweißen Gesicht. Ich blicke in den Spiegel. Schulterlanges, dunkelblondes Haar, leicht schräg angelegte, graublaue Augen, eine normal proportionierte Nase und meine zu groß geratene Klappe starren zurück. Weiße Blitze zucken in meiner Wahrnehmung, mein nächster epileptischer Anfall ist nur eine Frage der Zeit. Ich nehme die Pillendose, öffne sie mit zittrigen Fingern und schlucke die letzten zwei Tabletten trocken herunter. Mit einem Seufzer des Selbstbedauerns sacke ich vor der Badewanne zusammen und warte auf den Anfall. Nein, ich habe Glück im Unglück. Ein Anfall fühlt sich anders an. Ich hole tief Luft, öffne die Augen und presse meinen Nacken gegen den kühlen Rand der Wanne. Der Schmerz ebbt ab und ich finde langsam zur mir. Ich lasse ein paar Minuten verstreichen und schleiche mit butterweichen Beinen ins Schlafzimmer. Dort ziehe ich mir ein sauberes T-Shirt über und taumele die Treppe herunter. Zwei Soldaten stehen in der offenen Tür und reden auf Daisy ein. Der Minister hat sie geschickt, um mich vor einem möglichen Lynchmob zu schützen und um mich zur Aussage nach Whitehall abzuholen. Daisy schaut mich bedrückt an, vermeidet den direkten Blickkontakt. Es quält sie, mich erneut geschlagen zu haben.

      Eine Stunde später stehe ich vor dem berühmt berüchtigten Verteidigungsministerium von Großbritannien, im Volksmund kurz Whitehall oder MOD genannt. Ich werde bereits erwartet.

      »Mr Jennings! Ich freue mich, Sie bei guter Gesundheit zu sehen. Haben Sie etwa geweint? Ach was, Sie müssen nicht antworten, es sind harte Zeiten, die da auf uns einbrechen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?«

      Der geschwätzige Beamte ist ein elegant gekleideter Herr in Schwarz und glatt rasiert. Seiner weichen Stimme nach zu urteilen, scheint er Mr Tut-nichts-zur-Sache höchstpersönlich zu sein. Ohne weitere Worte, aber mit freundlichem und bestimmendem Lächeln werde ich durch unzählige Korridore, Schleusen und Aufzüge bugsiert. Erst eine geschlagene Viertelstunde später erreichen wir das Ziel. Ein banales Schott zu einem weiteren Aufzug. Im Unterschied zu den anderen Fahrstühlen gibt es keine Knöpfe zum Drücken, sondern einen senkrecht verlaufenden Kartenleser.

      »Wir sind da!«, verkündet Mr Tut-nichts-zur-Sache stolz, zieht seinen Bauch ein und wirft sich in die Brust. »Und wenn ich mir die persönliche Anmerkung erlauben darf, nicht viele Zivilisten haben bislang die Ehre gehabt, im Kriegskabinett zu Gast zu sein. Von hier aus führen wir die Geschicke des Empire und halten direkten Kontakt zu NORAD, dem Weißen Haus, dem NATO Oberkommando in Brüssel, zum Kreml in Moskau und zu weiteren befreundeten Regierungen. Von hier aus befehligt Ihre Majestät unsere Truppen im In- und Ausland.«

      »Wiederholen Sie das«, bitte ich überrascht und versuche zu meinem in Heathrow verloren gegangenen Humor zurückzufinden. »Die Königin ist auch hier?«

      Mr Tut-nichts-zur-Sache ist sichtlich irritiert.

      »Wie kommen Sie darauf?«

      »Sagten Sie nicht, Ihre Majestät würde von hier aus unsere Truppen lenken?«

      Mr Tut-nichts-zur-Sache kichert dezent, ist sichtlich not amused. »Eine Redensart, Jennings. Eine Redensart.«

      Aha. Spaß versteht man hier nicht. Nur die Eitelkeit, den Stolz des untergegangenen Empire.

      »Okay«, sage ich brav. »Wenn Sie von hier aus so viele Menschen erreichen können, haben Sie sicherlich auch eine Standleitung zum Morning Scandal, oder?«

      Die Augen des Sicherheitsbeamten blitzen verächtlich auf. Es tut gut, dem Empire einen Tritt zu verpassen.

      »Ihre Majestät hat nicht das Geringste mit Miss Bellatreccia oder ihrer Redaktion zu schaffen. Ich dachte, Sie würden Miss Bellatreccia kennen. Laut Passagiermanifest saß sie direkt neben Ihnen.«

      Meine Wange zuckt. Die monströse, miefende Schachtel?

      »Oh, das wussten Sie nicht?« Ein weiteres Kichern begleitet die zuckersüße Schleimigkeit des Beamten. Das Empire schlägt zurück. »Miss Bellatreccia ist Ihnen gefolgt, um einen Aufmacher für ihr Käseblatt zu suchen. Und, um sich für die unsanfte Behandlung durch Ironfists Team zu rächen.«

      »Warum pusten Sie die Süße nicht weg?«, frage ich hämisch, versuche mich gegenüber dem Empire zu behaupten.

      »Du meine Güte, Mr Jennings! Wohl zuviel James Bond gesehen, was? Wir sind der traurige, aber ehrenhafte Rest des alten, ruhmreichen Britischen Empire. Wir handeln zum Wohl der freien Welt und unserer Untertanen. Merken Sie sich eines, wir bringen niemanden um.«

      »Weiß das auch der MI6?«

      Mr Tut-nichts-zur-Sache hustet gekünstelt. »Selbstverständlich. Und um Sie zu beruhigen: Miss Bellatreccia und ihr Verleger haben von einem unserer Mediatoren einen Höflichkeitsbesuch bekommen und sind überglücklich, mit der morgigen Ausgabe Ihnen und der Welt eine angemessene Gegendarstellung liefern zu dürfen. Damit ist auch Ihr kleines Problem mit Ihrem ehrenwerten Dekan, Mr Honourtree, erledigt. Oder soll ich unsere operative Abteilung bitten, Ihren Dekan ebenfalls umzupusten? Hmm?«

      Jetzt ist es an mir zu husten. Das Empire hat mich auflaufen lassen und mit einem Blattschuss zur Strecke gebracht.

      »Entschuldigen Sie bitte«, flüstere ich und blicke zu Boden. »Ich habe nicht nachgedacht.«

      »Das will ich wohl meinen«, lacht Mr Tut-nichts-zur-Sache mit kauzig verschrobener Stimme und zieht seine Karte durch den Schlitz am Terminal. Es piepst und der Fahrstuhl zum Schafott öffnet sich lautlos. Wir steigen ein und huschen ohne weiteren Halt in die Tiefe. Der Lift stoppt abrupt und mein Magen rebelliert. Mr Tut-nichts-zur-Sache öffnet das Schott und führt mich durch einen kalten, metallisch glänzenden Gang. An seinem Ende liegt ein circa zehn mal zehn Meter großer Konferenzsaal und ich werde platziert. Direkt neben Anthony Blair, dem britischen Premierminister. Von einem Monitor starrt der US-Vize-Präsident berechnend und kühl auf uns herab, ein anderes Gerät zeigt den deutschen Innenminister. Von Frankreich und den Russen keine Spur.

      »Hey, hey. Der junge Terrorist, wie schön. Hätte nie gedacht, den noch einmal wiederzusehen«, sagt eine fröhlich spöttische Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und blicke Ironfist ins gnadenlose Gesicht. Er tritt aus dem Schatten, besser gesagt, aus einem weiteren Zugang in den Raum und legt seine Hand auf meine Schulter. Gut, dass ich nichts im Magen habe, es würde mir schwerfallen, ihm nicht ins Gesicht zu kotzen. Ironfist grinst, setzt sich neben mich und faltet brav seine Hände. Thomas Kyle Jennings zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Premierminister und Ungeheuer.

      Die Show geht schnell über die Bühne. Laut FBI-Protokoll und der Aussage des Inhabers von Shuckum's Oyster Bar bin ich der bis dato einzig bekannte Mensch, mit dem die Terroristen mehr als nur Smalltalk ausgetauscht haben. Daher also die zweifelhafte Ehre, in Whitehall auf höchster Ebene meine Aussage zu tätigen statt auf der Polizeiwache