Der Ruf des Kojoten. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170106
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war ihr das nie so sehr ins Bewusstsein gedrungen, aber in den letzten Monaten erschien es ihr beinahe unerträglich, dass die beiden sich ständig stritten. Sarah drehte sich auf dem Bett herum und zog den großen, schweren Bildband vom Nachttisch, den sie sich am Vortag in der Stadt gekauft hatte. Er zeigte Pferde aus aller Welt und sie genoss den Anblick der fremdartigen Kulturen und all der Rassen, von denen sie nie zuvor gehört hatte.

      Die Stimmen wurden lauter. Es war Samstagabend und die beiden wollten vermutlich nach Quincy zum Tanzen fahren, wie jeden Samstagabend. Es schien das wichtigste Ereignis der ganzen Woche in der Stadt zu sein, denn dann füllten sich die Kneipen und Saloons mit jungen Leuten, den Heiratswilligen und auch denen, die nur ein wenig Abwechslung zum harten, rauen Alltag suchten.

      Sarah richtete sich auf. Sie lauschte auf die Worte ihrer Brüder im unteren Stockwerk und auf einmal mischte sich auch ihr Vater ein, der die beiden zurechtwies, sich jetzt endlich zusammenzureißen und die Klappe zu halten, insbesondere Stacy. Nicht Byron, der gab ihm niemals Anlass zur Sorge. Byron besaß einen umsichtigen, ruhigen Charakter, der sich nicht leicht provozieren ließ und vernünftig genug war, mit dem Alkohol aufzuhören, bevor er sich seines Namens nicht mehr erinnerte. Stacy hingegen vergaß bisweilen nicht nur seine Manieren, sondern auch sein Selbstbewusstsein überstieg einige Grenzen, die er besser eingehalten hätte. Obwohl weder sein Vater herausragend gutaussehend, noch seine Mutter außergewöhnlich schön gewesen war, besaßen seine Gesichtszüge eine solche Vollkommenheit, dass es selbst seine eigene Familie immer wieder erstaunte. Sein braungebranntes Gesicht zu den hellblonden, kurzen Haaren wirkte bisweilen so unglaublich makellos wie das einer Puppe, wie eine Erscheinung im Traum. Er schien die Verkörperung des Märchenprinzen zu sein, der das Mädchen, das er liebte, vor dem bösen Drachen rettete. Die Nase war gerade, an der Spitze leicht gen Himmel zeigend und seine großen, hellblauen Augen besaßen eine faszinierende Eindringlichkeit. Wenn er lächelte und seine weißen, geraden Zähne zeigte, lagen ihm die Mädchen in Quincy haufenweise zu Füßen und dessen war er sich durchaus in vollem Ausmaß bewusst. Stacy genoss die Bewunderung des weiblichen Geschlechts und er kannte seine Wirkung auf sämtliche Mädchen der Umgebung, wenn er seinen Charme hinter der bisweilen unnahbaren, schwer zu fassenden Fassade zum Vorschein kommen ließ. Die meisten drangen eh nicht bis unter seine Oberfläche durch. Sie waren bereits von seinem Äußeren so geblendet, dass er gar keine große Mühe mehr aufbringen musste.

      „Und wehe, ich höre wieder irgendwelche Beschwerden!“, sagte Harold mit strenger Miene und richtete seine mächtige Gestalt auf. Sein jüngerer Sohn verzog das Gesicht. Er wirkte genervt und gab sich nicht erst die Mühe, dies vor seinem Vater zu verheimlichen.

      „Es wird doch wohl noch erlaubt sein, dass ich einmal die Woche ein bisschen Spaß habe! Einmal in sieben Tagen!“ Sein Gesicht zeigte keine Veränderung, bis auf die Wangenknochen, die hervortraten, weil er die Zähne fest aufeinanderbiss. Das tat er jedesmal, wenn er sich kaum noch zusammenreißen konnte. „Ich arbeite schließlich hart genug hier auf der Ranch!“

      „Deshalb musst du dich trotzdem nicht benehmen, wie der hinterletzte Dorftrottel“, warf sein älterer Bruder ruhig ein und bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. „Oder denkst du, es ist für mich besonders angenehm, wenn ich ständig irgendwelche Geschichten zu hören kriege, wie du dich wieder mal aufgeführt hast?!“

      „Dann hör’ halt einfach nicht hin!“ Stacy baute sich vor ihm auf, warf den Kopf zurück. Zwei braune Augen fixierten ihn gelassen und beinahe abfällig.

      „Wenn du dich heute wieder aufführst und irgendwelche Schlägereien oder sonst was anfängst“, Harolds Stimme klang beinahe drohend, „dann werde ich alles in die Wege leiten, damit du zukünftig deinen Lebensunterhalt woanders als hier auf der Ranch verdingen kannst!“

      Die Worte wirkten wie ein Hammerschlag. Schweigend starrte Stacy seinen Vater an. Ja, er wusste, dass sein Vater eigentlich damit gerechnet hatte, dass sein jüngerer Sohn irgendwann die Ranch verlassen und sich woanders etwas Eigenes aufbauen würde. Aber er war noch immer hier, auch mit sechsundzwanzig und hoffte darauf, dass sich sein Traum erfüllen würde und er eines Tages doch die Ranch seiner Vorfahren erben würde. Was genau ihn, trotz aller Ausweglosigkeit, an diesem Wunsch festhalten ließ, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er niemals bereit sein würde, dieses Land hinter sich zu lassen, ohne zumindest dafür gekämpft zu haben.

      „Komm jetzt.“ Byron boxte ihm den Ellenbogen in die Seite und riss ihn damit aus den Überlegungen. „Wir sind schon spät dran und wir wollen deine ganzen Verehrerinnen doch nicht warten lassen!“

      „Sehr witzig“, brachte Stacy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hielt dem mahnenden Blick seines Vaters stand, bis er zur Haustür hinaus war. Dann atmete er mehrere male tief durch, um sich zu beruhigen und die Stufen in den Innenhof hinabzuspurten, wo bereits der alte Ford Pickup parkte.

      Sarah hörte, wie der Motor ansprang. Ein paar Fehlzündungen hallten durch die Nacht und plötzlich fand sie es ungerecht, dass sie immer alleine zurückblieb, während der Rest ihrer Geschwister sich in irgendwelchen Bars und Kneipen vergnügte. Aber es half ja nichts, es lud sie ja nie ein Mann ein und alleine fortgehen war nichts für sie, da fühlte sie sich viel zu unsicher dafür. Sarah seufzte tief und blätterte eine weitere Seite ihres Buches um.

      Charlotte, ja, die wurde an manchen Abenden gleich von zwei, drei jungen Männern abgeholt, aber sie? Ein tiefer Schmerz bohrte sich in Sarahs Herz. Sie war nicht unbedingt hässlich, eben gewöhnlich, nicht hübscher als die meisten anderen Mädchen und genau das war vermutlich das Problem. Dazu noch ihre Schüchternheit und Zurückhaltung – das kam bei den jungen Männern nicht an. So hatte erst zweimal einer sie darum gebeten, mit ihr ins Kino zu gehen – und das mit neunzehn Jahren, die sie nun alt war! Das war nun wirklich mehr als peinlich! Sarah vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie hatte so viele Träume und Ideen für ihr Leben gehabt und auf merkwürdige Weise schienen alle bereits in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Designerin hatte ihr als Berufsziel vorgeschwebt oder Model – den Laufsteg entlang schreiten, mit schlanken, langen Beinen und einem zarten Gesicht – alles Eigenschaften, die sie nicht besaß. Sie war klein und kräftig und ihr Gesicht beinahe so rund wie der Vollmond.

      Der kühle Nachtwind trug das leise, entfernte Heulen eines Kojoten an ihr Ohr. Sie wusste, dass er in dem schmalen Tal, das der Fluss am südlichen Ende kreuzte, nach einem Weibchen schrie. Diese für fremde Ohren scheußlichen, schaurigen Töne aus dem Rachen eines in der Gegend beinahe ausgerotteten Raubtieres. Als ihr Urgroßvater, Hiram McCullough, die Ranch vor mehr als hundert Jahren an dieser Stelle gegründet hatte, war das Tal voll gewesen mit Kojoten. Darum hatte er ihm den Namen „Coyote Canyon“ gegeben und seine Ranch danach benannt. Ihr Brandzeichen, das alle Tiere auf die Hinterflanke gebrannt bekamen, zeigte ein umgedrehtes C neben einem korrekten, am Bogen sich überschneidend. Jeder konnte anhand dieses Symbols identifizieren, woher ein Kalb oder ein Pferd stammte. Es hing auch aus Holz über dem Eingang zur großen, alten Scheune und auf dem Torbogen, der am Ende der Hofeinfahrt den Weg überspannte.

      Wieder heulte der Kojote mehrere male hintereinander, doch Sarah fand, es hörte sich schön, durchdringend, herzergreifend an. Es war der Gesang ihrer Heimat, dieser Ranch und dieses Landes, das ihr so unbeschreiblich viel bedeutete. Wenn jemand sie fragte, woher sie stammte, gab sie immer dieselbe, stolze und leidenschaftliche Antwort: „Meinem Vater gehört die Coyote Canyon Ranch in der Nähe von Quincy!“

      Der Name war weit über die Grenzen der Stadt hinaus ein Begriff, nicht nur wegen ihrer Rinder, vor allem aufgrund der hervorragenden Pferdezucht. Harold McCullough hatte sich vor vier Jahren zwei ungewöhnliche Stuten geleistet, als er einen entfernten Verwandten in Kentucky besucht hatte: American Saddlebred Horses. Es seien die schönsten Pferde, die er je gesehen habe, so Harold zu seiner Begründung, als er mit den beiden Tieren auf der Ranch angekommen war. Es störte ihn auch nicht im Mindesten, dass sie nur bedingt oder gar nicht für die Rancharbeit geeignet waren mit ihren langen Beinen, den wohlproportionierten, edlen Körpern und den wachen, feinen Köpfen. Sie besaßen nicht die Geduld, einer Rinderherde über viele Stunden zu folgen. Sie wollten laufen, ihre Schönheit und Ausdauer unter Beweis stellen. Plantagenpferde, als was sie ursprünglich gezüchtet worden waren, weil die Rasse in den Südstaaten ins Leben gerufen worden war, um die reichen Baumwollpflanzer