Der Fall - Amos Cappelmeyer. John Marten Tailor. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: John Marten Tailor
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754943250
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bedeutete so viel wie kleines, unbeholfenes Kind und war fester Bestandteil des großelterlichen Vokabulars. Der ältere Mann beugte sich hinunter und tätschelte dem Bewusstlosen die Wangen.

      »Bruno? Hörst du mich? Bruno? – Wie lange war er im Wasser, Ämos

      Amos zuckte die Schultern unter dem stechenden Blick des Erwachsenen.

      »Nicht lange. Weiß nicht«, stotterte er unbeholfen, wünschte sich sehnlichst, Worte zu hören wie: Es wird alles wieder gut, doch stattdessen startete Großvater Wiederbelebungsmaßnahmen. Wie gebannt starrte der Knabe auf den Brustkorb seines Vetters sowie die grauen Hände seines Vormunds, die in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pumpen begannen.

      Täuschte das, oder sah Bruno viel weniger bedrohlich aus?

      Die sich überschlagende Stimme des Großvaters riss Amos aus seinen Gedanken.

      »Und eins, und zwei, und drei!« Unverhofft hustete Bruno, würgte, bis Wasser aus Mund und Nase trat. »Junge, mein lieber Junge! Du bist da. Alles in Ordnung?« Krächzend kam ein »Ja«, das Amos in diesem Moment alles bedeutete.

      »Was ist denn nur geschehen? Ämos

      »Uns war so warm, deshalb sind wir schwimmen gegangen. Auf einmal waren da ganz merkwürdige Wasserwesen, die haben Bruno festgehalten ...!«

      »Ach, Ämos, du mit deiner blühenden Fantasie. Reiß dich zusammen. Dein Cousin wäre fast ertrunken!« Und im gleichen Atemzug: »Wir bringen dich erstmal rein. Wie wäre das, Junge?«

      »Mmh.«

      »Fass mit an, Ämos. Wir schaffen ihn in die Küche. Da kann er sich aufwärmen.«

      Beim Abendessen waren sie vollzählig am Tisch versammelt. Die Großeltern auf der einen, die Kinder auf der anderen Seite. Der blasse Amos hielt den Blick gesenkt, erwartete jeden Augenblick die fällige Standpauke, doch die blieb aus. Bruno verhielt sich merkwürdig, hatte nicht mehr gesprochen seit dem Erlebnis im Teich.

      Großvater blätterte missmutig in den Thüringer Nachrichten, räusperte sich. Er bekam jedes Mal schlechte Laune, wenn er über das Übel im Lande las. Deshalb hatte Amos gelernt, Zeitungen als eher abträglich für den Familienfrieden einzustufen. So kam es sporadisch vor, dass ein Exemplar, welches er am Morgen aus dem Briefkasten holen sollte, verschwand. Das Resultat erwies sich jedoch als kontraproduktiv, denn Großvaters Laune blieb den kompletten Tag über getrübt.

      »Das darf nicht wahr sein«, raunte Luitpold, ohne die Lippen zu bewegen.

      »Wie bitte? Du sprichst in Rätseln. Lass uns teilhaben, Lui«, forderte Oma Hilde, entfaltete ihre Serviette und drapierte sie auf ihrem Schoß, wie es sich für eine Dame geziemte. Sie hatte nicht aufgegeben, den Kindern Tischmanieren beibringen zu wollen, doch das hatte weder bei ihrem Gatten funktioniert, noch bei den eigenen Kindern und die Aussichten für die jüngste Generation Cappelmeyer standen lausig.

      »Noh, im Harz oben ist eine Frau abgängig - bei diesen schwerreichen Hotelheinis. Weißt schon, die wo ständig die Annoncen in der Zeitung sind. `Nen Sohn hat`s wohl, kaum älter als wie unsere Beiden hier und plötzlich ist sie wie vom Erdboden verschluckt? Wer glaubt denn sowas? Hier, sogar mit Foto.« Er klopfte auf das Bild, als ob die anderen am Tisch es dann besser sehen könnten. »Kann fast jede sein, wenn ihr mich fragt. Aber es ist eine Belohnung ausgelobt, stellt euch vor. 500 Mark! – Glaube ja nicht, dass sie gefunden wird. Aber wer fragt einen alten Mann.«

      »Ja, ja, die Welt ist verdorben«, nickte Hilde traurig, klatschte in die Hände und knipste in Nullkommanichts ihr bestes Sonntagslächeln an. »Aber jetzt esst bitte auf, Jungs und dann ist Schlafenszeit für euch. Morgen ist ein neuer Tag.«

      500 Mark, das war unvorstellbar viel Geld, nicht nur für einen Knaben wie Amos.

      Kapitel Zwei

      Unklar

       Gegenwart

      … das Unfassbare geschah gleich in der ersten Nacht. Baufahrzeuge frästen alten Asphalt von der Straße direkt unter meinem Fenster. Eine Arbeit, über deren Sinn oder Unsinn ich nicht zu urteilen vermochte.

      Auf jeden Fall stank es unerträglich nach verbranntem Teer.

      Ein Höllenlärm, den kompletten Spätnachmittag lang, seit ich nach viereinhalb Stunden Zugfahrt die Zimmertür aufgesperrt hatte. Zudem war es stickig und warm in dem Kabuff, welches mir als Sparzimmer verkauft worden war. Wie sollte ich da schlafen, geschweige denn schreiben können? Ich, der Schriftsteller, inmitten seiner kreativen Phase, der nichts als absolute Stille und Ruhe gewohnt war? Für den ein Buntspecht bei der Arbeit an Lärmbelästigung grenzte?

      Das Schreiben konnte ich mir heute abschminken, hoffte auf morgen.

      Um nicht länger in der Enge des stillosen Zimmers sinnlos umher zu tigern, klappte ich den Laptop zu, streifte mir mein abgewetztes Lieblingsjackett mit den Armflicken über die Schultern, setzte meinen Stetson auf und begab mich in die Lobby. Der hochnäsige Concierge versicherte mir, nicht über die Straßenbaumaßnahmen informiert worden zu sein. Ich kaufte ihm das nicht ab und beschloss, um die Häuser zu ziehen. Immerhin war dies die Landeshauptstadt, da sollte doch was gehen.

      Weit kam ich nicht, denn ich hatte nie Bauarbeitern hautnah bei der Arbeit zugesehen. Eine eigentümliche Faszination ergriff mich. Die rotierenden Scheiben der Fräse fraßen sich hungrig durch maroden welligen Teer. An der Seite mitlaufend beobachtete ich die drehenden Fräsmonster. Meine Neugier blieb nicht unbemerkt.

      »Was glotzt`n Du so dämlich, du Tunte? Noch nie ehrliche Männer bei der Arbeit gesehen?«

      »Äh, offen gesagt, nicht.« Kurzum schilderte ich dem Straßenarbeiter, dass ich einer der bekanntesten Schriftsteller unserer Epoche sei und gewöhnlich mit meiner Zeit knausern müsse. Er zog zweifelnd eine balkenförmige Augenbraue hoch.

      »Ach, echt? Wie ist dein Name, Hallawachl

      Ich räusperte mich, rang um Selbstbewusstsein: »Amos Cappelmeyer.«

      »Kappelmeier? Ja, von dem habe ich gehört. Das ist doch der, der ...«

      Zu meiner Verwunderung schien mein Gesprächspartner diesen Namen zu kennen, woher auch immer, und zitierte aus Büchern, von denen ich nichts wusste. Seine unrasierte Visage lud zum Reinschlagen ein, während er auf gebildet tat und seine Augen leuchteten gar wie kleine Funken, als er sein literarisches Wissen kundtun durfte, ohne von den harten Knochen aus der Asphalt-Branche verspottet zu werden.

      Sollte ich mich zu erkennen geben, zugeben, dass ich in Wahrheit eine Null war? Kam nicht in Frage, denn ich würde den fürchterlichen Kerl der Firma »Leffler International Bau« niemals wieder sehen und machte mir einen Jux daraus, vorzugeben, jemand zu sein. Nach einer Weile fühlte ich mich wie sein Bruder, wir qualmten sogar eine Kippe zusammen. Doch die Kaltfräsmaschine produzierte auf einmal merkwürdige Geräusche und ruinierte den Moment. Gunar, so hieß der Typ, beschattete mit einer Hand seine Augen und fluchte, den Glimmstängel zwischen den Lippen:

      »Scheiße! Nicht schon wieder.«

      »Was meinst du damit, Gunar? Passiert das öfters?«

      »Frag nicht so dämlich.« Als Mann weniger Worte demonstrierte ein fester Griff in meinen Nacken seine Entschlossenheit. Er schleifte mich zur Asphaltfräse.

      »So, du Dummschwätzer, jetzt bist du dicht genug dran am Geschehen und kannst sehen, wie die Maschine ihre Arbeit ereldigt.« Das rotierende Fräswerk, welches direkt vor meiner Nasenspitze lärmend Fräsgut durch die Gegend spuckte, jagte mir gehörig Ballerkacken ein. Mein Alter Ego brüllte wie am Spieß, was zum Glück im Lärm der Fräse unterging. Oder?

      »Spuck es aus, wer bist du, du Spinner?«

      »Ich, ich bin ...« Vor Aufregung pinkelte ich mir in die Hosen. Es wurde wärmer um meine Genitalien. Gut, dass ich den Großteil an Flüssigkeit bereits ausgeschwitzt hatte. Er ließ von mir ab. So schnell mich