Der Junge war so klein und so leicht, daß er in dem mächtigen Sturm nicht gleich auf die Erde fallen konnte, er flog noch eine Weile mit dem Wind weiter und sank dann langsam und flatternd hinab, wie ein Blatt, das vom Baume weht.
»Ach, das hat keine Not!« dachte der Junge noch während er fiel. »Ich sinke so langsam hinab, als wäre ich ein Stück Papier. Der Gänserich Martin wird sich schon beeilen und mich wieder aufsammeln.«
Das erste, was er tat, als er auf die Erde hinabkam, war die Mütze vom Kopf zu reißen und damit zu winken, damit der große, weiße Gänserich sehen sollte, wo er war. »Hier bin ich, wo bist du? Hier bin ich, wo bist du?« rief er und war ganz erstaunt, daß der Gänserich Martin noch nicht neben ihm war.
Aber der große Weiße war nicht zu sehen, und er sah auch die Schar der Wildgänse sich nicht vom Himmel abzeichnen. Sie war ganz verschwunden.
Er fand das ja freilich ein wenig sonderbar, aber er wurde nicht bange oder unruhig. Es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, daß Akka oder Martin ihn im Stich lassen könnten. Der heftige Windstoß hatte sie wohl mitgenommen. Sobald sie imstande waren, zu wenden, würden sie schon zurückkommen und ihn holen.
Aber was war denn das? Wo in aller Welt war er hingeraten? Bisher hatte er nur dagestanden und nach den Gänsen zum Himmel emporgesehen, aber jetzt blickte er plötzlich um sich. Er war nicht auf die flache Erde hinabgefallen, sondern in eine tiefe, breite Bergschlucht, oder was es nun sein mochte. Es war ein Raum so groß wie eine Kirche, mit fast lotrechten Felsenwänden nach allen Seiten und ganz ohne Decke. An der Erde lagen einige große Felsblöcke und dazwischen wuchsen Moos und Preißelbeergrün und kleine, niedrige Birken. Hier und da an den Felswänden waren vorspringende Ecken, von denen zerbrochene Leitern herabhingen. Nach der einen Seite erschloß sich ein finsteres Gewölbe, das tief in den Berg hineinzuführen schien.
Der Junge war nicht umsonst einen ganzen Tag über den Bergwerkdistrikt dahingeflogen. Er begriff sofort, daß die große Schlucht dadurch entstanden war, daß man in früheren Zeiten an dieser Stelle Erz in dem Berge gebrochen hatte. »Aber ich muß sofort versuchen, ob ich nicht wieder auf die Erde hinaufklettern kann,« dachte er, »denn sonst fürchte ich, daß meine Reisegefährten mich nicht finden können.«
Er wollte eben an die Felswand gehen, als jemand kam und ihn von hinten packte, und er hörte eine grobe Stimme in sein Ohr brummen: »Was für einer bist du denn?«
Der Junge wandte sich schnell um, und im ersten Schrecken glaubte er, einem großen Felsblock gegenüberzustehen, der mit graubrauner Bartflechte bedeckt war; dann aber gewahrte er, daß der Felsblock breite Füße hatte, auf denen er gehen konnte, und einen Kopf und Augen und einen großen, brummenden Mund.
Er konnte kein Wort der Entgegnung hervorbringen, aber das schien das große Tier auch gar nicht zu erwarten. Er warf ihn um, rollte ihn mit der Pfote hin und her und beschnüffelte ihn. Es sah so aus, als wolle es ihn verschlingen, da aber kam es auf andere Gedanken und rief: »Murre und Brumme, kommt schnell, meine Kleinen! Hier ist was Leckeres für euch!«
Augenblicklich kamen zwei zottige Junge dahergestürzt, sie standen schlecht auf den Beinen und hatten ein weiches Fell so wie junge Hunde.
»Was habt Ihr da gefunden, Bärenmutter? Dürfen wir sehen, was es ist?«
»Also Bären sind es, unter die ich geraten bin,« dachte der Junge. »Dann fürchte ich, braucht sich Reineke Fuchs keine Mühe mehr zu geben, hinter mir drein zu jagen.«
Die Bärin schob den Jungen mit der Tatze den Kleinen hin, und eins von ihnen schnappte ihn weg und lief mit ihm davon. Aber es biß nicht hart zu, denn es war ausgelassen und wollte mit dem Däumling spielen, ehe es ihn tot biß. Das andere lief hinterdrein, um den Jungen zu ergattern und kam so watschelnd und taumelnd daher, daß es dem mit dem Jungen gerade auf den Kopf fiel. Und so rollten sie über- und untereinander und rissen sich und bissen sich und brummten.
Währenddessen entkam der Junge, lief an die Felswand und begann hinaufzuklettern. Aber die beiden Bärenkinder kamen hinter ihm drein gestürzt, kletterten schnell und behende den Berg hinauf, holten ihn ein und warfen ihn auf das Moos hinab wie einen Ball. »Jetzt weiß ich, was eine arme kleine Maus empfindet, wenn sie in die Krallen der Katze geraten ist,« dachte der Junge.
Er versuchte mehrmals zu entschlüpfen. Er lief tief in den alten Grubengang hinein, verbarg sich hinter den Steinen und kletterte in die Birken hinauf, aber die Bärenkinder fanden ihn, wo er sich auch versteckte. Sobald sie ihn eingefangen hatten, ließen sie ihn wieder los, damit er ihnen wieder fortlaufen sollte, denn dann hatten sie das Vergnügen, ihn wieder einzufangen.
Schließlich wurde der Junge so müde und hatte das Ganze so satt, daß er sich an die Erde warf. »Lauf! Lauf!« riefen die Bärenkinder, »sonst fressen wir dich!« – »Meinetwegen!« sagte der Junge, »ich kann nicht mehr laufen.« Sofort stürzten die Kleinen zu der Bärenmutter. »Mutter, Mutter, er will nicht mehr spielen,« klagten sie. – »Ja, dann nehmt ihn und teilt ihn unter euch, aber ganz gerecht,« sagte die Bärenmutter. Als der Junge das hörte, wurde er so bange, daß er gleich wieder zu spielen anfing.
Als es Schlafenszeit war und die Bärin ihre Jungen rief, damit sie dicht an sie herankriechen und sich schlafen legen sollten, hatten sie sich so köstlich unterhalten, daß sie morgen dasselbe Spiel spielen wollten. Sie nahmen den Jungen zwischen sich und legten die Tatzen auf ihn, so daß er sich nicht rühren konnte, ohne sie zu wecken. Sie schliefen bald ein, und der Junge dachte, nach einer Weile wolle er versuchen, zu entschlüpfen. Aber nie in seinem Leben war so mit ihm herumgeworfen und getründelt und gejagt und gedreht, und er war so todmüde, daß er auch einschlief.
Ein wenig später kam der Bärenvater die Felswand hinabgeklettert. Der Junge erwachte davon, daß er Steine und Kies losriß, indem er sich in die alte Grube hinuntergleiten ließ. Der Junge wagte ja kaum, sich zu rühren, aber er drehte und wendete sich so, daß er den Bären sehen konnte. Es war ein mächtig großer, starkgliedriger Bär mit gewaltigen Tatzen, großen, schimmernd weißen Eckzähnen und kleinen, boshaften Augen. Der Junge konnte nichts dafür, daß es ihm kalt den Rücken hinablief, als er den alten König des Waldes erblickte.
»Es riecht hier nach Menschen!« sagte der Bärenvater, sobald er zu der Bärenmutter gelangt war, und dabei brummte er wie ein Gewitter.
»Wie kannst du nur auf solche Dummheiten verfallen!« sagte die Bärenmutter und blieb ruhig liegen, wo sie lag. »Es ist ja eine Verabredung, daß wir den Menschen kein Leid mehr zufügen wollen. Aber käme einer hier hinab, wo ich und die Kleinen hausen, so würde nicht so viel von ihm übrigbleiben, daß du es riechen könntest.«
Der Bärenvater legte sich neben die Bärenmutter, schien aber nicht ganz zufrieden mit der Antwort zu sein, denn er konnte es nicht lassen zu schnobern und zu wittern.
»Laß doch das alte Geschnober noch!« sagte die Bärenmutter. »Du solltest mich doch nachgerade genug kennen, um zu wissen, daß ich nichts, was Unheil anrichten kann, in die Nähe der Kleinen kommen lasse. Erzähle mir lieber, was du unternommen hast? Ich habe dich eine ganze Woche nicht gesehen.«
»Ich bin ausgewesen und habe mich nach einer neuen Wohnung umgesehen,« sagte der Bärenvater. »Zuerst ging ich nach Wärmland hinüber, um unsere Verwandten im Neuwald zu fragen, wie sie sich da im Lande befänden, aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Sie waren alle fort. Da war auch nicht ein Bärenlager im ganzen Walde.«
»Ich glaube, die Menschen wollen die ganze Erde für sich haben,« sagte die Bärenmutter. »Wenn wir auch Menschen