Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bettina Reiter
Издательство: Bookwire
Серия: Liebesromanzen in St. Agnes/Cornwall
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742740793
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nicht halb so anstrengend war wie seine pubertierende Tochter. „Sieht es für dich irgendwie danach aus, als ob es ein Restaurant in der Nähe geben würde?“ Jack machte eine ausladende Handbewegung.

      „Hinter dir ist doch ein Hotel, oder?“

      Er wandte sich kurz um. „Diese Baracke nennst du Hotel?“ Das desolate vierstöckige Haus wirkte wie ein Überbleibsel aus irgendeinem Krieg. Lose Kabel hingen aus der Mauer, wo vermutlich irgendwann Freilampen angebracht gewesen waren. Über dem abgewetterten Eingang hing ein windschiefes Schild mit der Aufschrift: Last Inn. Letzte Einkehr, letztes Gasthaus – das glaubte Jack unbenommen, da es außer diesem Haus weit und breit nichts gab als kornische Natur, wohin das Auge reichte. „In einer Stunde sind wir im Fünf-Sterne-Hotel. Deshalb ist dieses vorsintflutliche Etwas keine Option für uns, Leni.“

      „Ach Dad, mir knurrt der Magen und ich bin müde.“

      „Ich glaube sowieso nicht, dass wir mit der Limousine heute noch irgendwohin kommen“, ließ Michael verlauten. Sie waren beide vierzig und hatten gemeinsam studiert. Ein schlauer Bursche mit dem Handicap, dass er klang, als wäre er von Geburt an mit Zigarren gefüttert und mit Whiskey ruhiggestellt worden. Dabei mochte Michael weder das eine noch das andere, sondern war bei einer Mandeloperation in jungen Jahren an den Stimmbändern verletzt worden. „Wir sitzen hier fest, da ist nichts mehr zu machen, denn um unser Problem zu lösen, fehlt mir das nötige Know-how.“

      „Dann müssen wir eine Werkstatt anrufen.“ Jack nahm seine spiegelverglaste Brille ab und schob sie in die Innentasche seiner dunkelblauen Anzugjacke.

      Michael blickte auf seine goldene Armbanduhr. „Das kannst du vergessen. Es ist schon fast sieben. Die sind bestimmt alle im Feierabend.“ Auch er ließ den Blick kurz durch die Gegend schweifen. „Es ist ohnehin fraglich, ob es in der Nähe eine Werkstatt gibt. Deshalb sollten wir im Hotel einchecken.“

      „Das ist nicht dein Ernst“, regte sich Jack auf. „Außerdem bezahle ich dich dafür, dass du Lösungen findest und nicht beim ersten Widerstand einknickst.“

      „Wir können gerne zu Fuß gehen, eine Bushaltestelle suchen oder uns ein Taxi rufen. Aber ich bin ehrlich gesagt ebenfalls zu müde, um hier dumm rumzustehen.“ Michael rollte die Ärmel hinunter. Er genoss eine gewisse Narrenfreiheit, da er auch Jacks bester Freund war. „Der Flug hat mich ziemlich geschlaucht. Also lass uns hierbleiben und das Beste daraus machen. Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“

      „Mich kriegen auch keine zehn Pferde mehr von hier weg“, mischte sich zu allem Überfluss Leni ein, die ihrer Mutter mit den langen brünetten Zöpfen, der Stupsnase und ihrer Vorliebe für grelle Farben sehr ähnlich war. Sogar das kleine Muttermal über dem rechten Auge hatte sie mit Carol gemeinsam und nur wenige Zentimeter, dann würde Leni dieselbe Körpergröße haben. Innerhalb eines Jahres war seine Tochter extrem in die Höhe geschossen. „Außerdem hängt mein Magen schon durch.“

      „Könntest du dich etwas gewählter ausdrücken?“, rügte Jack sie.

      „DN.“ Sie rollte mit den Augen.

      „Darf man fragen, was das heißen soll?“ Jack bemerkte, dass Michael grinste. „Gut, wenn es mir meine Tochter nicht sagen möchte, erkläre du es mir.“

      „Du nervst.“

      „Dir ist schon klar, dass du mit deinem Chef sprichst?“

      „Wieso? Du wolltest, dass ich es übersetze.“ Michael warf die Motorhaube zu.

      „Super, Michael“, erboste sich Leni, „musst du alles verraten?“

      Michael grinste. „Dafür werde ich bezahlt. Was ist jetzt, Jack? Glaubst du, dass du eine Nacht in dem Hotel überstehen kannst?“

      Sein Freund wusste, dass Jack viel von Ordnung und Sauberkeit hielt. Er war eben ein ästhetischer Mensch mit gewissen Prinzipien. Egal, in welcher Beziehung. „Meinetwegen“, stimmte er zu, da sie in der Tat auf die Schnelle keine andere Wahl hatten. Aber kaum im Last Inn, bereute Jack seine Entscheidung sofort. In der Lobby standen ausrangierte Armsessel herum, die sicher vom Flohmarkt stammten. Vor der Rezeption verstaubte ein Servierwagen mit dreckigem Geschirr. Wenigstens war die junge Dame freundlich, die ihnen drei Einzelzimmer zuwies, der sie nach oben folgten.

      Im übrigen Hotel sah es leider nicht viel besser aus. In den langen Gängen mit dem Teppich in verschiedenen Rottönen – der früher vermutlich eine Steppdecke gewesen war – funktionierte nur jede dritte Lampe. Der Lift war außer Betrieb und allerorts standen verdorrte Blumen. Nachdem Leni und Michael in ihre Zimmer verschwunden waren, betrat Jack seins, das direkt neben dem seiner Tochter lag. Obwohl er auf alles gefasst war, traf ihn beinahe der Schlag. Der Raum war so klein, dass sich Jack kaum um die eigene Achse drehen konnte. Die ockerfarbenen Vorhänge waren eine Qual für seine sensiblen Augen, die rosafarbene Bettwäsche eine Zumutung für jeden Mann. Von den vielen Flecken ganz abgesehen, die sich auch im blauen Sofa in Miniaturgröße und dem aschgrauen Teppich zeigten.

      Leider ging der Wahnsinn weiter, denn das winzige Bad hätte ohne weiteres als Dixi-Klo durchgehen können. Die weißen Standardfliesen waren ein Mekka für Schimmel und überall lagen Haare. Die Klospülung war ein Witz, denn die paar Tropfen beförderten höchstens eine tote Mücke in den Abfluss. Eine Klobürste gab es nicht, genauso wenig wie einen Duschvorhang. Das Waschbecken brach beinahe aus der Verankerung und der Spiegel war voller Schlieren.

      Plötzlich hatte Jack das Gefühl zu ersticken, riss die Balkontür auf und trat hinaus. Mit skeptischem Blick auf den knarrenden Holzboden und in Gedanken bei seiner Arbeit, die unter keinem guten Stern begann. Dabei hatte er alles minuziös geplant und müsste sein erstes Geschäft bereits unter Dach und Fach haben. Hoffentlich sprang Hermes Winter nicht ab, dessen Villa er kaufen wollte, um sie anschließend abreißen zu lassen. Das Grundstück war ein optimaler Standort für ein Luxushotel. Danach waren Büro- und teure Wohnkomplexe an der Reihe, je höher desto besser. Dazu würde er in St. Agnes leerstehende Gebäude aufkaufen, wofür sie in Amerika bereits eine Liste erstellt hatten. Darunter auch das kleine Geschäft an der Küstenstraße, in dem ein Casino entstehen sollte. Auf dieses Projekt freute er sich besonders.

      Jack spürte ein Kribbeln im Bauch. Wie immer, wenn er vor neuen Herausforderungen stand. Ja, so liefen lukrative Geschäfte ab. Man erwarb günstigen Besitz und stampfte ein Luxusgebäude nach dem anderen aus dem Boden. Ein paar VIPs, die sich den Urlaub teuer bezahlen ließen, einige Events und schon hatte man einen Hot Spot wie London, Cannes oder Kitzbühel. Dadurch schnellten die Grundstückspreise in die Höhe und letztendlich fuhr ihre Firma satte Gewinne ein, sobald sie die Liegenschaften wieder verkauften. Auch in Wales und Yorkshire hatten sie ähnliche Projekte ins Auge gefasst. Aber eins nach dem anderen. Zuerst war St. Agnes dran und es wäre doch gelacht, wenn man aus diesem popligen Dörfchen keine Goldgrube machen könnte!

      ♥

      Annie starrte auf das keltische Grabkreuz und dachte an die zwei Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ihr Grandpa und Sandy. Sie starb an einem Blinddarmdurchbruch – noch in derselben Nacht, als man sie ins Krankenhaus einlieferte. Ihr Grandpa hatte es ihr gesagt. Er war es auch gewesen, der sie fest in seinen Armen hielt, weil sie wild um sich geschlagen hatte. Zu unglaublich war es gewesen, dass ihre Schwester nie wieder kommen würde. Fort war. Für immer. In den Tagen danach hatte sie dennoch im Schuppen auf sie gewartet. Stundenlang, denn dort lehnte ihr Surfbrett. Auch in Sandys Zimmer schlich sie sich oft in der Nacht, zog ihren Lieblingspyjama an und legte sich in ihr Bett. Einmal hatte die Mutter sie dabei erwischt und einen hysterischen Anfall bekommen. Damals wusste Annie nicht, weshalb. Heute war ihr klar, dass es ein Schock für ihre Mom gewesen sein musste. Als wäre Sandy zurückgekehrt.

      Es war schwierig gewesen, damit umzugehen. Für sie alle, denn die Mutter schaffte es anfangs nicht, Annie den nötigen Halt zu geben. Ihr Dad war ohnehin nie ein Mann vieler Worte gewesen. Irgendwann kehrte jedoch der Alltag wieder ein und mittlerweile erinnerte sich Annie an die schönen Dinge. An den Spaß, den sie bei den traditionellen Festen gehabt hatten. Ob beim Bolster Festival, dem St. Agnes Victorian Street Fayre oder dem Fest der Heiligen Agnes. Auch jedes einzelne Muschelglas war noch da. So