Russische Kindheit bis 1917. Arkadi Petrowitsch Gaidar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arkadi Petrowitsch Gaidar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754937839
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gestohlen und bin auch nicht verhaftet. Aber zu Hause sitzt jetzt mein Vater, der zwei Jahre lang nicht daheim war und den ich jetzt unter so eigenartigen und rätselhaften Umständen wieder gesehen habe. Ich stand auf, war aber gleich wieder unschlüssig. Auf eigene Faust weggehen, wenn man nachsitzen muss – das war eines der schwersten Vergehen an unserer Schule. Nein, ich warte, entschied ich und setzte mich wieder auf die Bank. Aber mit einem Male packte mich eine unbegreifliche Wut. Ganz egal, dachte ich, der Vater ist von der Front weggelaufen – ich lächelte boshaft –‚ und ich sitze hier und habe Angst.

      Ich lief zu den Kleiderhaken, warf mir den Mantel über, knallte die Tür zu und eilte auf die Straße.

      *

      Vieles wollte mir mein Vater an jenem Abend erklären; er gab sich alle Mühe mit mir. “Aber Vater”, so fragte ich, “bevor du von der Front wegliefst, da warst du doch ein tapferer Soldat. Du bist doch nicht aus Angst weggelaufen?” “Ich bin auch jetzt kein Feigling.” Er sagte das ganz ruhig. In diesem Augenblick schaute ich unwillkürlich zum Fenster hinaus und erschrak heftig: Von der anderen Straßenseite her kam ein Polizist gerade auf unser Haus zu. Bedächtigen Schritts ging er bis zur Mitte der Straße und dann auf dem Fahrdamm nach rechts weiter zum Marktplatz. “Der… kommt … nicht … zu uns.” Nach jedem Wort holte ich tief Luft. Am nächsten Abend sagte mein Vater zu mir: “Borka, jeden Tag können sie kommen, verstehst du? Und das Spielzeug, das ich dir geschickt habe, versteck es auch weiter gut. Du musst tapfer sein! Bist ja kein kleiner Junge mehr. Und wenn du in der Schule Ärger hast wegen mir, mach dir nichts draus! Hab keine Angst, hörst du, vor nichts! Aber pass gut auf, was ringsum geschieht, dann verstehst du auch, was ich dir erzählt habe.” “Wir sehen uns doch wieder, Vater?” “Wir sehen uns wieder. Ich werde manchmal hier in der Gegend sein, aber zu euch kann ich nicht kommen.” “Aber wo wirst du denn sein?” “Das erfährst du, wenn es soweit ist.” Es war schon dunkel, aber der Schuster von nebenan saß immer noch auf dem Bänkchen am Hoftor und spielte auf seiner Ziehharmonika, um sich herum einen Schwarm Mädchen und Jungen. “Es wird Zeit für mich”, sagte mein Vater, und man merkte ihm die Erregung an. “Ich darf nicht zu spät kommen.” “Die bleiben sicher bis spät in die Nacht da sitzen, wir haben ja Sonnabend heute.” Vater runzelte die Stirn. “Ausgerechnet! Sag mal, Boris, kommt man nicht irgendwo durch den Zaun oder durch einen anderen Garten? Du musst das doch wissen.” “Nein”, erwiderte ich, “durch andere Gärten geht es nicht. Links, bei den Aglakows, ist der Zaun zu hoch, und Nägel sind drin. Rechts ginge es schon, aber da haben sie so 'nen scharfen Hund, der ist wie ein Wolf… Aber ich weiß was. Wenn du willst, gehen wir zum Teich runter, da hab ich ein Floss. Damit bring ich dich hinter den Gärten vorbei bis an die Schlucht. Jetzt ist es dunkel, und das ist eine ganz abgelegene Gegend, da sieht dich kein Mensch.”

      Unter dem Gewicht meines Vaters wäre unser Floss beinahe untergegangen, das Wasser drang schon in die Stiefel. Vater stand und rührte sich nicht. Lautlos glitt das Floss über das schwarze Wasser. Manchmal blieb unsere Stange im zähen Schlamm des Bodens stecken. Nur mit Mühe konnte ich sie wieder herausziehen. Zweimal versuchte ich, am Ufer zu landen, aber vergebens – der Boden der Schlucht lag sehr tief und war nass. Ich hielt mehr nach rechts und legte am letzten Garten an. Es war ein verwilderter Garten, sein Zaun halb zerfallen, niemand kümmerte sich mehr darum. Ich brachte Vater noch bis zu einem großen Loch im Zaun. Von dort aus kam er gleich in die Schlucht. Wir nahmen Abschied voneinander. Noch eine Weile blieb ich stehen. Die Zweige knackten unter Vaters schwerem Schritt. Dann wurde das Geräusch leiser und immer leiser…

      8. Kapitel

      Drei Tage darauf wurde Mutter zur Polizei bestellt. Dort teilte man ihr mit, ihr Mann sei aus seiner Einheit desertiert. Sie musste unterschreiben, dass ihr der derzeitige Aufenthalt unbekannt und sie verpflichtet sei, den Behörden sofort Mitteilung zu machen, wenn sie etwas erfahre. Durch den Sohn des Polizeichefs wurde es am nächsten Tag in der Schule bekannt, dass mein Vater ein Deserteur war. Vater Gennadi hielt im Religionsunterricht eine kleine Predigt über die Treue zu Zar und Vaterland und über die Heiligkeit des Fahneneides. Bei der Gelegenheit erzählte er, wie in der Zeit des Krieges gegen Japan einmal ein Soldat vom Schlachtfeld geflohen war, um sein Leben zu retten, dabei aber den Tod unter den Zähnen eines reißenden Tigers erlitten hatte. Vater Gennadi sah darin ein untrügliches Zeichen göttlicher Vorsehung; sie hatte den Flüchtigen gebührend gestraft. Jener Tiger hatte nämlich – ganz gegen seine Gewohnheit – den Soldaten nicht gefressen, sondern ihn nur in Stücke gerissen und sich dann davongemacht. Nach zwei Tagen wurde mir mitgeteilt, der Lehrerrat habe entschieden, mir für mein eigenmächtiges Verlassen der Schule eine Drei in Betragen zu geben. Eine Drei in Betragen bedeutete im Allgemeinen, dass der Schüler bei der nächsten Ermahnung aus der Schule ausgeschlossen würde. Drei Tage später gab man mir ein Schreiben mit, in dem es hieß, meine Mutter habe unverzüglich mein Schulgeld für das erste Halbjahr in voller Höhe zu entrichten. Bis jetzt brauchte ich als Sohn eines Soldaten nur die Hälfte zu zahlen.

      *

      Es kam eine schwere Zeit. Den entehrenden Spitznamen “Deserteurssohn” wurde ich nicht mehr los. Viele kündigten mir die Freundschaft. Andere wieder sprachen zwar noch mit mir und wichen mir auch nicht aus, verhielten sich aber so eigenartig, als hätte man mir ein Bein abgenommen oder als läge ein Toter bei uns zu Hause. Mit der Zeit stand ich ganz allein. Ich spielte mit niemandem mehr, war nicht mehr dabei, wenn eine andere Klasse überfallen wurde, und besuchte auch meine Kameraden nicht mehr. An den langen Herbstabenden saß ich zu Hause oder war bei Timka Schtukin und seinen Vögeln. In jener Zeit wurden wir gute Freunde. Auch sein Vater war immer freundlich zu mir. Ich verstand nur nicht, warum er mich manchmal unverwandt von der Seite anschaute, mir über den Kopf strich und dann, mit den Schlüsseln klirrend, wortlos hinausging. Eine unruhige Zeit brach an. Viele Menschen lebten jetzt in der Stadt, doppelt so viel wie früher. Die Schlangen vor den Läden wurden immer länger. An jeder Straßenecke, überall standen die Leute in Gruppen zusammen, und immer wieder zogen Prozessionen mit wundertätigen Bildern durch die Straßen. Alle möglichen unsinnigen Gerüchte lagen in der Luft. So hieß es, an den Seen, oben am Fluss Serjosha, wären die Altgläubigen in die Wälder gezogen. Unten bei den Hügeln hätten die Zigeuner Falschgeld umgesetzt, und nun wäre alles so teuer, weil riesige Mengen dieses falschen Geldes in Umlauf kämen.

      Einmal entstand ein sehr gefährliches Gerücht: In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend sollten die Juden verprügelt werden, sie wären Spione und Verräter, und deswegen dauere der Krieg so lange. Immer mehr Landstreicher tauchten auf, keiner wusste, woher sie kamen. Und immer wieder hörte man von erbrochenen Türschlössern, von ausgeplünderten Wohnungen. Eine halbe Hundertschaft Kosaken hatte in der Stadt Quartier bezogen. Dicht aufgeschlossen ritten sie über die Straßen, finstere Kerle mit langwehendem Haar, und sangen ihre Lieder, wilde Lieder. Dann trat Mutter vom Fenster zurück und sagte: “Die hab ich lang nicht gesehen… seit 1905 nicht mehr. Nun sitzen sie wieder im Sattel, wie Adler sehen sie aus, genau wie damals.” Von Vater hörten wir gar nichts. Ich glaubte ihn in Sormowo bei Nishni Nowgorod. Bevor er ging, hatte er Mutter lange und eingehend nach ihrem Bruder Nikolai gefragt, der dort in einer Waggonfabrik arbeitete. Nur darauf stützte sich meine Vermutung. Eines Tages im Winter kam Timka Schtukin auf mich zu und winkte mir vorsichtig mit dem Finger. Er tat sehr geheimnisvoll, aber ich nahm das nicht besonders ernst. Ohne mir was dabei zu denken, folgte ich ihm in eine Ecke. Erst schaute er sich nach allen Seiten um, dann flüsterte er mir zu: “Komm heute Abend mal zu uns. Mein Vater hat gesagt, du musst unbedingt kommen!” “Was will er denn von mir? Das sagst du bloß so.” “Das sag ich nicht bloß so. Du musst unbedingt kommen, dann siehst du, weshalb!” Timka machte dabei ein ernstes, beinahe ängstliches Gesicht. Da wusste ich, dass er keinen Scherz machte.

      Am Abend ging ich zum Friedhof. Schnee wirbelte durch die Luft, und das Licht der trüben, verschneiten Laternen vermochte kaum das Dunkel der Straßen zu durchdringen. Der Weg zum Wäldchen und zum Friedhof führte über freies Feld. Wie Nadeln stach der Schnee ins Gesicht. Ich zog den Kopf noch tiefer in den Kragen und stapfte über den vom Schnee verwehten Pfad auf das grüne Lämpchen zu, das am Friedhofstor brannte. Ich stolperte über eine Grabplatte und fiel der Länge nach in den Schnee. Die Tür zum Küsterhäuschen war verschlossen. Ich klopfte, aber man machte nicht sofort auf. Ich klopfte