Russische Kindheit bis 1917. Arkadi Petrowitsch Gaidar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arkadi Petrowitsch Gaidar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754937839
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Französisch. Die alte Hexe hatte uns die Verben mit ‚être‘ aufgegeben… aller, arriver, entrer, rester, tomber usw. Der Rajewski musste an die Tafel kommen und fing gerade an zu schreiben: ‚rester, tomber‘…, da ging auf einmal die Tür auf, und der Inspektor kam rein.” Timka kniff die Augen zusammen, schaute mich vielsagend an und fuhr fort: “…und der Direktor und auch noch unser Klassenlehrer. Als wir uns wieder hingesetzt hatten, da sagte der Direktor: ‚Meine Herren, ein Unglück ist geschehen. Ein Schüler Ihrer Klasse, der Spagin, ist von zu Hause weggelaufen. Er hat einen Zettel hinterlassen. Darauf steht, er wäre zur deutschen Front unterwegs. Ich glaube nicht, meine Herren, dass er das getan hat, ohne seine Klassenkameraden einzuweihen. Bestimmt wussten viele von Ihnen schon vorher davon, aber Sie haben es nicht für notwendig gehalten, es mir zu melden. Meine Herren, ich werde…‘ Und so ging das immer weiter, eine halbe Stunde lang.” Mir stockte der Atem. Das war ja ein tolle Neuigkeit, und ausgerechnet ich hatte zu Hause gesessen, als ob ich krank wäre, und von nichts gewusst.

      *

      In den nächsten Tagen gab es nur ein Thema: die kühne Flucht Walka Spagins. Doch der Direktor irrte sich, wenn er annahm, viele von uns wären in die Fluchtpläne Spagins eingeweiht gewesen. Tatsächlich hatte niemand etwas gewusst. Es war auch keiner auf den Gedanken gekommen, Walka Spagin könne weglaufen. Er war so ein Stiller, prügelte sich nie mit den anderen, war nie dabei, wenn wir in fremden Gärten Äpfel gestohlen hatten. Ständig rutschte ihm die Hose, mit einem Wort, ein Waschlappen, wie er im Buche stand. Und nun auf einmal solche Geschichten! Wir fragten uns, ob nicht jemand irgendwelche Vorbereitungen bemerkt hätte. Es konnte doch nicht einer von uns so mir nichts, dir nichts die Mütze aufsetzen und an die Front abhauen. Fedka Baschmakow erinnerte sich, bei Walka eine Eisenbahnkarte gesehen zu haben; Dubilow, der schon das zweite Jahr in unserer Klasse saß, erzählte, Walka habe sich in einem Laden eine Batterie für seine Taschenlampe gekauft. Doch so viel wir auch darüber nachdachten, keiner von uns hatte irgendetwas bemerkt, das auf Vorbereitungen zur Flucht hätte schließen lassen. Wir alle waren sehr erregt und in gehobener Stimmung, gaben im Unterricht falsche Antworten, und die Zahl derer, die zur Strafe kein Mittagessen bekamen, war doppelt so groß wie sonst. Einige Tage verstrichen, und schon gab es wieder eine große Neuigkeit: Diesmal war Mitka Tupikow aus der ersten Klasse abgerückt. Die Schulleitung war ernsthaft beunruhigt. Fedka teilte mir im Vertrauen mit: “Heute soll in der Religionsstunde darüber geredet werden. Ich hab die Hefte ins Lehrerzimmer getragen, und da hab ich gehört, wie sie darüber sprachen.”

      Unser Religionslehrer, Vater Gennadi, war an die siebzig Jahre alt. Er hatte einen so großen Bart und so dichte Augenbrauen, dass von seinem Gesicht kaum etwas zu sehen war. Wollte er den Kopf nach hinten wenden, musste er den ganzen Körper mitdrehen, so dick war er. Sein Hals war überhaupt nicht zu sehen. Wir mochten ihn alle gern. In seinem Unterricht konnte man machen, was man wollte: Karten spielen, zeichnen, man konnte anstatt des Alten Testaments ein verbotenes Buch von Pinkerton oder eins über Sherlock Holmes vor sich liegen haben, weil Vater Gennadi so kurzsichtig war. Vater Gennadi kam zur Klasse herein, segnete mit erhobener Hand alle Anwesenden, und sofort brüllte unser Klassenältester los: “Himmlischer Herrscher, du unser Trost, du bist die Wahrheit…” Vater Gennadi holte sehr weit aus. Zuerst erzählte er uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Soviel ich verstanden hatte, ging dieser Sohn aus dem Hause seines Vaters und irrte in der Weit umher, als er aber dabei auf den Hund gekommen war, kehrte er nach Hause zurück. Dann erzählte er uns das Gleichnis von den Talenten: wie ein reicher Mann seinen Sklaven Geld gab, das damals Talente hieß, und wie einige Sklaven mit diesem Geld Handel trieben und viel dabei verdienten. Die anderen aber versteckten ihr Geld und bekamen so gar nichts hinzu. “Und was sagen uns diese Gleichnisse?” fuhr Vater Gennadi fort. “Das erste Gleichnis erzählt von einem ungehorsamen Sohne. Dieser Sohn verließ seinen Vater, trieb sich lange in der Fremde umher und kehrte dennoch unter seines Vaters Dach zurück. Wie viel schlimmer aber ist es mit euren Kameraden, die noch unerfahren sind in den Fährnissen des Lebens und heimlich ihr Vaterhaus verlassen haben; ihnen wird es schlecht ergehen auf dem Pfade des Unheils, den sie beschritten haben. Noch einmal ermahne ich euch: Wenn einer von euch weiß, wo sie sind, der soll ihnen schreiben, dass sie keine Angst zu haben brauchen, und heimkehren sollen unter ihr väterliches Dach, solange es noch Zeit ist. Denkt daran, wie der verlorene Sohn heimkehrte, wie ihn sein Vater aber nicht tadelte, sondern ihm die schönsten Kleider anzog und ein gemästetes Kalb schlachten ließ, wie an einem Festtage. So werden auch die Eltern dieser beiden verlorenen Söhne ihnen alles verzeihen und sie mit offenen Armen aufnehmen.”

      Das wollte mir zwar nicht so ganz einleuchten. Wie Tupikows Eltern ihren Sohn empfangen würden, wusste ich nicht, eins aber stand für mich fest: Der Bäckermeister Spagin würde wegen der Rückkehr seines Sohnes bestimmt kein gemästetes Kalb schlachten, sondern den Riemen abschnallen und seinem Sohn den Hintern versohlen. “Und das Gleichnis von den Talenten”, fuhr Vater Gennadi fort, “erzählt uns, dass man sein Wissen nicht in der Erde vergraben soll. Ihr studiert hier alle möglichen Wissenschaften. Und wenn ihr die Schule beendet habt, dann wählt sich ein jeder von euch einen Beruf nach seinen Fähigkeiten, nach seinen inneren Neigungen und nach seinem Stande. Der eine von euch wird, sagen wir mal … ein geachteter Kaufmann, ein anderer Arzt und ein dritter Beamter. Jedermann wird euch achten und bei sich denken: Ja, das ist ein tüchtiger Mensch, der hat seine Talente nicht im Boden vergraben, der hat sie genutzt und genießt jetzt mit Recht alles Schöne im Leben. Aber”, Vater Gennadi hob beide Hände bekümmert zum Himmel empor, “aber, so frage ich euch, was kommt nun bei solcher Flucht heraus, wo die Schüler alle ihnen gebotenen Möglichkeiten missachten, wo sie von zu Hause fortlaufen und Abenteuer suchen, Schaden nehmen an Leib und Seele? Ihr wachst hier heran wie die zarten Blüten im Treibhaus eines treusorgenden Gärtners, ihr kennt weder Wind noch Sturm, in Ruhe und Frieden könnt ihr euch entfalten zur Freude eurer Lehrer und Erzieher. Sie aber … und sollten sie auch allem Unheil widerstehen, sie wachsen wild heran wie Disteln und Dornen, vom Winde zerzaust und bedeckt vom Staub der Straße.”

      Vater Gennadi schritt aus der Klasse hinaus, erhaben und voll inneren Feuers wie ein Prophet, und bewegte sich langsam auf das Lehrerzimmer zu. Ich aber seufzte tief auf und sagte nachdenklich: “Fedka!” “Ja?” “Was hältst du von der Geschichte mit den Talenten?” “Gar nichts. Und du?” “Ich?” Ich stockte und fuhr dann leise fort: “Ich glaub, ich würde auch meine Talente vergraben. Was ist das schon? Kaufmann oder Beamter?” “Ich glaub, ich auch”, gestand Fedka etwas unsicher. “Was soll das schon sein, wie eine Blume im Treibhaus heranwachsen? Wenn du draufspuckst, geht sie kaputt. Dornen und Disteln. Ja, das ist schon was anderes, denen macht kein Regen was aus und keine Hitze.”

      3. Kapitel

      In jeder Woche, am Mittwoch, wurde in der Aula unserer Schule vor Beginn des Unterrichts ein feierliches Gebet für den Sieg unserer Waffen gesprochen. Nach dem Gebet wandten wir uns alle zur linken Seite, wo die Bilder des Zaren und der Zarin hingen. Dann begann der Chor die Hymne “Gott erhalte den Zaren”, und alle stimmten mit ein. Ich sang aus voller Kehle mit, hatte zwar keine besonders schöne Stimme, gab mir aber solche Mühe, dass der Aufsicht habende Lehrer einmal zu mir sagte: “Etwas leiser, Gorikow, Sie meinen es allzu gut!” Ich ärgerte mich. Was sollte das heißen: “Allzu gut.” Hatte ich auch kein Talent zum Singen, sollte ich dann etwa den Mund halten und nur die anderen für den Sieg beten lassen? Zu Hause klagte ich Mutter mein Leid. Doch zu meinem großen Kummer nahm sie das nicht recht ernst und meinte nur: “Du bist noch zu jung, wenn du erst älter wirst, dann … Ja, sie führen Krieg, und so geht das immer weiter. Aber was hast du damit zu tun?” “Versteh ich nicht, Mammi. Warum soll ich denn nichts damit zu tun haben? Die Deutschen wollen doch unser Land erobern. Und grausam sind sie, das hab ich selbst gelesen. Warum sind die Deutschen solche Barbaren, die mit niemandem Mitleid haben, mit den alten Leuten nicht und auch nicht mit den Kindern? Aber unser Zar, der ist doch so gut zu allen Menschen.” “Hör schon auf damit!” Meine Mutter wurde richtig ärgerlich. “Alle Menschen sind gut… aber nun sind sie verrückt geworden, die Deutschen sind nicht schlechter als andere, und wir sind genauso.”

      Dann ging sie hinaus, und ich blieb mit meinen Fragen allein. Wieso sollten die Deutschen nicht schlechter sein als wir? Wieso eigentlich? Sie waren doch wirklich schlechter. Erst neulich wurde im Kino gezeigt,