Wie ich so saß und grübelte, klopfte es an der Tür, und ein Brief in einem großen blauen Kuvert wurde mir übergeben. Ich sah auf den ersten Blick, daß der Brief von einem Anwalt stammte, und eine innere Stimme sagte mir, daß er mit meiner Vormundschaft zusammenhing. Der Brief, der heute noch in meinem Besitz ist, lautete wie folgt:
»Sehr geehrter Herr! Unser Klient, der am 9. d. M. in Cambridge verstorbene Mr. L. Vincey, hat ein Testament hinterlassen, dessen Vollstrecker wir sind und von dem wir eine Abschrift beifügen. Auf Grund dieses Testamentes erhalten Sie auf Lebenszeit die Hälfte des von dem Verstorbenen hinterlassenen und in Staatsanleihen angelegten Vermögens unter der Voraussetzung, daß Sie die Vormundschaft über seinen einzigen, derzeit fünf Jahre alten Sohn Leo Vincey übernehmen. Hätten wir nicht selbst entsprechend Mr. Vinceys klaren und präzisen Anweisungen das fragliche Dokument aufgesetzt und hätte er uns nicht erklärt, für seinen Entschluß sehr gute Gründe zu haben, so erschienen uns die darin enthaltenen Bestimmungen derart ungewöhnlich, daß wir uns verpflichtet fühlen würden, das Vormundschaftsgericht darauf aufmerksam zu machen, um eventuell die Zurechnungsfähigkeit des Erblassers nachprüfen zu lassen. Da uns jedoch der Erblasser als eine Persönlichkeit von klarstem Verstand und Scharfsinn bekannt war und wir wissen, daß er keine Verwandten besitzt, die er mit der Vormundschaft über das Kind hätte betrauen können, nehmen wir von diesem Schritt Abstand. In Erwartung Ihrer Instruktionen bezüglich der Übergabe des Kindes und der Zahlung der Ihnen zustehenden Dividenden zeichnen wir hochachtungsvoll Geoffrey und Jordan.«
Ich legte den Brief hin und überflog das Testament, welches, nach seiner völligen Unverständlichkeit zu schließen, gemäß striktesten juristischen Prinzipien abgefaßt schien. Immerhin konnte ich daraus entnehmen, daß es genau das enthielt, was mir mein Freund vor seinem Tode gesagt hatte. Also war es doch wahr. Ich mußte den Jungen zu mir nehmen. Plötzlich fiel mir der Brief ein, den mir Vincey zusammen mit dem Kasten übergeben hatte. Ich holte und öffnete ihn. Er enthielt lediglich die mir bereits mündlich gegebene Anweisung, den Kasten an Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag zu öffnen, sowie Richtlinien für die Erziehung des Jungen, die Griechisch, höhere Mathematik und Arabisch umfassen sollte. Am Schluß stand eine Nachschrift des Inhalts, daß ich, falls der Junge vor seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr starb, den Kasten öffnen und entsprechend den darin enthaltenen Informationen handeln solle, falls ich dies für richtig hielte. Wenn nicht, sollte ich den Inhalt vernichten, ihn jedoch auf keinen Fall in fremde Hände gelangen lassen.
Da dieser Brief mir nichts Neues sagte und keinerlei Anlaß bot, das meinem Freund gegebene Versprechen nicht zu erfüllen, blieb mir nur eins übrig – den Herren Geoffrey und Jordan zu schreiben, daß ich zur Übernahme der Vormundschaft bereit sei, und zwar in zehn Tagen. Darauf begab ich mich ins Sekretariat des Colleges, erzählte den Herren dort von der Geschichte so viel, wie ich für nötig hielt, und konnte sie mit einiger Mühe dazu überreden, ein Auge zuzudrücken und mir, falls ich eine Fellowship erhielt, zu gestatten, das Kind zu mir zu nehmen. Dies wurde mir unter der Bedingung bewilligt, daß ich mein Logis im College aufgab und mir anderweitig eine Wohnung suchte. Dies tat ich, und es gelang mir, ganz in der Nähe des Colleges eine meinen Vorstellungen entsprechende Wohnung zu finden. Nun hieß es, sich nach einer Bedienung umzusehen, und ich faßte in dieser Hinsicht sogleich einen festen Entschluß – nämlich keine weibliche Person zu engagieren, die mich tyrannisieren und mir die Zuneigung des Jungen stehlen würde. Schließlich war er alt genug, um ohne weibliche Betreuung auszukommen. Ich begab mich deshalb auf die Suche nach einem geeigneten Diener und machte schließlich einen sehr ordentlichen, kräftigen jungen Mann ausfindig, der Knecht in einem Reitstall war. Er erklärte mir, daß er zusammen mit sechzehn Geschwistern aufgewachsen sei, deshalb mit Kindern gut umzugehen verstünde und gern bereit sei, Leo in seine Obhut zu nehmen, sobald er einträfe. Nachdem ich sodann den Eisenkasten in die Stadt gebracht und in meiner Bank deponiert hatte, kaufte ich einige Bücher über die Pflege und Erziehung von Kindern, die ich zuerst allein studierte und dann Job – so hieß der junge Mann – vorlas, und wartete.
Endlich traf das Kind in Begleitung einer älteren Person ein, die beim Abschied von ihm bitterlich weinte. Es war in der Tat ein schöner Junge! Seine Augen waren grau, seine Stirne breit und sein Gesicht, schon in diesem frühen Alter, fein geschnitten wie eine Kamee. Das reizendste an ihm jedoch war sein Haar, das in dichten, golden schimmernden Locken seinen wohlgeformten Kopf bedeckte. Als die Bonne sich schließlich von ihm losriß, weinte auch er ein wenig. Nie werde ich dieses Bild vergessen. Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster herein auf seine goldenen Locken, während er so dastand, die kleine Faust auf das eine Auge gepreßt und mit dem anderen uns musternd. Ich streckte ihm, in meinem Sessel sitzend, die Hand entgegen, während Job in seiner Ecke einen gackernden Laut von sich gab, von dem er aus Erfahrung wußte, daß er auf Kinder beruhigend und Vertrauen einflößend wirkte, und dazu schob er ein überaus scheußliches Holzpferd auf und ab. Dies dauerte ein paar Minuten; dann streckte der kleine Bursche plötzlich seine Ärmchen aus und lief zu mir.
»Dich hab' ich lieb«, sagte er, »du bist häßlich, aber gut.« Zehn Minuten später aß er mit sichtlichem Behagen ein dickes Butterbrot; Job wollte Marmelade darauf tun, doch ich erinnerte ihn ungehalten an die ausgezeichneten Bücher, die wir gelesen hatten, und verbot es ihm.
In ganz kurzer Zeit (ich hatte inzwischen meine Fellowship erhalten) wurde der Junge zum Liebling des ganzen Colleges, wo er allen Vorschriften und Verboten zum Trotz ständig aus- und einging. Alle verwöhnten ihn durch Geschenke, und mit einem inzwischen verstorbenen Professor, der als großer Griesgram und Kinderfeind galt, hatte ich seinetwegen eine ernste Auseinandersetzung. Da Leo nämlich häufig einen verdorbenen Magen hatte, wies ich Job an, genau auf ihn aufzupassen, und so stellte sich heraus, daß dieser gewissenlose alte Mann den Kleinen in seine Wohnung zu locken und mit ungeheuren Mengen Likörbonbons zu füttern pflegte. Job sagte ihm, er solle sich schämen, so etwas zu tun, »noch dazu in seinem Alter, in dem er längst Großvater sein könnte, wenn er seine Pflicht getan hätte« – womit Job meinte, wenn er sich verehelicht hätte. Daraus bestand unser Streit.
Leider ist es mir nicht vergönnt, noch länger bei diesen köstlichen Jahren zu verweilen, an die ich mich so gerne erinnere. Eines nach dem anderen verging, und mit ihnen wuchs unsere gegenseitige Zuneigung. Nur wenige Söhne wurden wohl so geliebt, wie ich Leo liebe, und nur wenige Väter kennen die tiefe, unerschütterliche Zuneigung, die Leo für mich empfindet.
Das Kind wuchs zum Knaben heran und der Knabe zum Jüngling, während erbarmungslos die Jahre entschwanden, und mit ihm wuchsen seine körperlichen und geistigen Vorzüge. Als er etwa fünfzehn Jahre alt war, nannte man ihn auf dem College ›den Schönen‹, während man mich als ›das Scheusal‹ bezeichnete. ›Der Schöne und das Scheusal‹ wurden wir genannt, wenn wir zusammen spazierengingen, was wir täglich taten. Einmal stürzte sich Leo wütend auf einen großen kräftigen Metzgergesellen, der uns diese Spitznamen nachrief, und verprügelte ihn. Ich ging weiter und tat, als ob ich nichts sehe, und erst als der Kampf gar zu hitzig wurde, drehte ich mich um und spornte Leo an. Das ganze College zerriß sich damals über uns den Mund, doch ich konnte einfach nicht anders. Später erfanden die Studenten andere Namen für uns. Sie nannten mich ›Charon‹ und Leo den ›Griechengott‹! Über meinen Namen will ich bescheiden hinweggehen, denn ich muß zugeben, daß ich nie hübsch war und mit zunehmendem Alter auch nicht wurde. Was Leo betrifft, so gab es wohl keinen treffenderen Namen für ihn. Mit einundzwanzig Jahren hätte er zu einer Statue des jungen Apoll Modell stehen können. Ich habe nie jemanden gesehen, der ihm an Schönheit gleichkam, und dabei war er sich dieser Schönheit gänzlich unbewußt. Er hatte einen brillanten, scharfen Verstand, doch zum Gelehrten fehlte es ihm an Ausdauer und Verbohrtheit. Ich sorgte gewissenhaft dafür, daß er entsprechend den Anweisungen seines Vaters erzogen wurde, und das Ergebnis war alles in allem, besonders im Griechischen und Arabischen, befriedigend. Um ihm beim Studium des Arabischen helfen zu können, lernte ich diese Sprache ebenfalls, doch nach fünf Jahren kannte er sie ebensogut wie ich – und fast so gut wie der Professor, der uns darin unterrichtete. Da ich ein begeisterter Sportler war – es war meine einzige Leidenschaft –, fuhren wir jeden Herbst zum Jagen und Fischen, manchmal nach Schottland, manchmal nach Norwegen, einmal sogar nach Rußland. Ich bin ein guter Schütze, doch auch auf diesem Gebiet war er mir bald überlegen.