Allgemein herrscht die Ansicht, daß der Krieg die edelste Beschäftigung des Mannes sei, daß der höchste Ruhm nur auf dem Schlachtfelde errungen werden könne. Wenn auch die Welt diese Ansicht angenommen hat, laß dich durch sie nicht täuschen. Der Mensch muß etwas Höheres über sich anerkennen und verehren; das ist ein Gesetz, das so lange gelten wird, als es Dinge gibt, die seinem Verstande unfaßbar sind. Das Gebet des Barbaren ist ein Aufschrei der Furcht vor einer überlegenen Kraft, der einzigen göttlichen Eigenschaft, die er klar erkennt. Wir aber waren die ersten, die über diesen rohen, barbarischen Glauben hinausgingen. An die Stelle der rohen Kraft setzten unsere Väter Gott, der Erguß der Furcht wich in unserem Kult dem Hosiannagesang und den Psalmen. Die Herrschaft der Römer ist weiter nichts als ein Rückfall in die alte Barbarei. Die Römer setzen den Krieg über alles, und nirgends außer im Kriegswesen hat Rom Selbständiges geschaffen. Seine Spiele und Schaustellungen sind griechische Einrichtungen, denen nur die Grausamkeit der Römer einen blutigen Charakter gegeben hat. Roms Religion – wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann – setzt sich aus Gebräuchen und Lehren aller anderen Nationen zusammen. Seine höchst verehrten Götter – Mars und selbst Jupiter nicht ausgenommen – entstammen dem griechischen Olymp. Der Römer ist gegen die Vorzüge anderer Völker blind, seine Selbstsucht verhüllt sein Auge wie mit einem dichten Schleier, der ebenso undurchdringlich ist wie sein Brustpanzer. O die ruchlosen Räuber! Unter ihrem Tritte erdröhnt die Erde wie eine mit Dreschflegeln bearbeitete Tenne. Unter anderen Völkern – ach, daß ich es dir sagen muß, mein Sohn! – sind auch wir gefallen. Sie haben unsere höchsten, unsere heiligsten Stellen besetzt, und niemand kann sagen, wie das alles noch enden wird. Allein soviel ist gewiß: mögen sie Judäa zermalmen, wie man Mandeln zerstampft, und sein Öl und Mark, Jerusalem, verzehren, der Ruhm der Männer Israels wird in unerreichbarer Höhe am Himmel leuchten, denn ihre Geschichte ist Gottes Geschichte. Durch ihre Hände schrieb er, durch ihren Mund redete er und er war mit ihnen in allem Guten, auch dem geringsten, das sie jemals taten. Ist es möglich, mein Sohn, daß jene, mit denen Jehova in solcher Weise verkehrte, nichts von ihm lernten, daß in ihrem Leben und Wirken die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften nicht von der Göttlichkeit durchdrungen und beeinflußt wurden, daß ihr Geist nicht – selbst nach Jahrhunderten noch – ein schwaches Abbild des göttlichen bewahrte?« Eine Zeitlang war das Rauschen des Fächers allein vernehmbar in der Stille, die nach diesen Worten eintrat.
»Beschränkt man«, sprach sie weiter, »die Kunst auf Bildhauerei und Malerei, dann ist es allerdings wahr, daß Israel keine Künstler hat. Aber man darf nicht vergessen, daß die Kunstfertigkeit unserer Hände unterbunden wurde durch das Verbot: ›Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis von dem, was im Himmel oben oder auf der Erde unten oder was unter der Erde im Wasser ist!‹ ein Verbot, das die Sopherim über seinen Zweck und seine Geltung hinaus ausgedehnt haben. Noch darf man vergessen, daß lange, bevor Dädalus in Attika erschien, zwei Israeliten, Beseleel und Soliab, die Werkmeister der ersten Stiftshütte, die Cherubim zu beiden Seiten des Gnadenthrones über der Bundeslade gebildet hatten. Sie waren aus getriebenem Gold, nicht gemeißelt; es waren nicht rein menschliche, sondern himmlische Gestalten. Wer wagt es zu behaupten, daß sie nicht schön waren oder daß sie nicht die ersten Statuen waren?«
»O, ich begreife jetzt,« fiel Judah lebhaft ein, »warum die Griechen uns übertroffen haben. Und die Bundeslade – Fluch über die Babylonier, welche sie zerstörten!«
»Nein, Judah, sei doch gläubig! Nicht zerstört wurde sie, sondern allzu sicher in irgendeiner Bergeshöhle versteckt, daß sie verloren ging. Eines Tages wird sie, wie Hillel und Schammai versichern, nach dem Willen des Herrn wiedergefunden und ans Tageslicht gebracht werden, dann wird Israel wieder vor ihr tanzen und singen wie in der alten Zeit. Und jene, welche dann das Antlitz der Cherubim schauen werden, werden die Hand jedes Israeliten küssen wollen aus Ehrfurcht vor dem Genie seines Volkes, das durch Jahrtausende untätig schlummerte.«
Die Mutter war ganz in leidenschaftlichen Eifer geraten. Nun machte sie eine Pause, um sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen. »Du bist so gut, Mutter,« sprach Judah im Tone der Dankbarkeit. »Ich werde niemals ermüden, es zu sagen. Schammai und Hillel hätten nicht besser reden können. Ich bin jetzt wieder ein wahrer Sohn Israels.«
»Schmeichler!« entgegnete sie. »Du weißt freilich nicht, daß ich bloß wiederholte, was ich von Hillel hörte, als er eines Tages in meiner Gegenwart mit einem römischen Sophisten stritt.«
»Nun, die Herzlichkeit der Sprache ist doch dein Eigentum.« Sie wurde sofort wieder ernst.
»Wo bin ich stehn geblieben? Ja, ich beanspruchte für unsere Vorfahren die ersten Statuen. Die Fertigkeit des Bildschnitzers ist aber nicht die einzige Kunst, gleichwie die Kunst selbst nicht die einzige Größe ist. Ich denke mir immer die großen Männer aller Jahrhunderte als einen langen Heereszug, der nach den verschiedenen Nationen in Gruppen abgeteilt ist: hier Inder, dort Ägypter, dort Assyrer; unter Trompetengeschmetter und mit fliegenden Fahnen ziehen sie einher, während all die zahllosen Geschlechter vom Anbeginn an als ehrfurchtsvolle Zuschauer zu ihrer Rechten und Linken stehn. Und fortwährend ergießt sich über die ganze Reihe von einem bis zum andern Ende, von der grauen Vorzeit bis in die ferne Zukunft, ein Licht, das den Streitenden den Weg weist, ohne daß sie es kennen – das Licht der Offenbarung! Und wer ist sein Träger? Unser Volk, Judah! Wie schwillt einem jedem Israeliten die Brust bei diesem Gedanken! An diesem Lichte erkennen wir sie. Dreimal selig ihr, unsere Väter, ihr Diener Gottes und Hüter des Bundes! Dort ist auch dein Platz, Judah, und wäre auch jeder Römer ein Cäsar, du sollst ihn nicht verlieren!«
Judah war tief bewegt. »Ich bitte dich, Mutter, fahre fort!« rief er aus. »Deine Worte sind für mich wie Siegesgesang. Ich warte auf Miriam und die Frauen, die ihr singend und tanzend folgten.« Die gehobene Stimmung Judahs geschickt benützend, fuhr die Mutter fort: ›Nun gut, mein Sohn! Kannst du den Siegesgesang der Prophetin hören, dann kannst du auch weiter meinem Gedankengange folgen. Stelle dich im Geiste mit mir an den Wegrand, während die Auserwählten Israels an der Spitze des Zuges an uns vorüberschreiten. Sieh, sie kommen! Zuerst die Patriarchen, dann die Väter der Stämme. Es dünkt mir, ich höre die Glöckchen ihrer Kamele und das Blöken ihrer Herden. Wer ist der, der dort allein und abgesondert zwischen den Gruppen geht? Es ist ein Greis, doch ungetrübt ist sein Auge und ungebrochen seine Kraft. Er sah den Herrn von Angesicht zu Angesicht. Er war Krieger, Dichter, Redner, Gesetzgeber und Prophet. Wie die Morgensonne durch ihr strahlendes Licht alle übrigen Gestirne verdunkelt, so überragt er an Ruhm alle übrigen, selbst den ersten und edelsten der Cäsaren. Auf ihn folgen die Richter. Danach kommen die Könige: der Sohn Jesses, ein Held im Kriege und ein Sänger unsterblicher Gesänge; und sein Sohn, der reichste und weiseste aller Könige, der die Wüste bewohnbar machte und, während er auf ihren öden Flächen Städte baute, doch auch Jerusalems nicht vergaß, das der Herr zu seinem Sitz auf Erden auserwählt hatte. Neige dein Haupt tiefer, mein Sohn! Die jetzt kommen, sind die ersten in ihrer Art und die letzten. Ihr Angesicht ist nach oben gewandt, als ob sie eine Stimme vom Himmel hörten und lauschten. Ihr Leben war voll des Kummers. Ihr Gewand riecht nach Grab und Verwesung. Horch!