Wie ich es sehe. Johanna Knapp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Knapp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173701
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ihrem Nebenjob und konnte sich massenhaft Sachen kaufen. Das geklaute Zeug versteckte ich dann in meinem Zimmer, in meine Schubladen, vollgestopft mit Tampons, Heften und Spielzeugresten von früher, oder unterm Bett zwischen dem ganzen anderen Kram aus meiner Schultasche, den ich dort verstaute. Meistens nahm ich Sachen, die sie sowieso nicht vermisste, nur manchmal dann doch.

      Meine Schwester ist dann bald ausgezogen. Sie hatte einfach die Nase voll von meinen Eskapaden.

      Ich zog das schwarze Shirt mit den tiefen Armausschnitten an, durch die man meinen BH sehen konnte, was meine Mutter immer furchtbar auf die Palme brachte, obwohl mein Busen wirklich nicht der Rede wert ist, dann die pinken Plateauschuhe.

      Augen geradeaus und an meiner Mutter vorbei, keine Zeit für irgendwelche Outfit-Diskussionen, die musste man direkt mit lauter Stimme im Keim ersticken, damit kein Geschrei folgen konnte und schnell raus aus der Tür – jaaa, bin um elf zu Hause.

      Wir trafen uns mit ein paar Leuten am Rhein. Wir tranken Bier und schauten auf den Dom gegenüber und die Schiffe auf dem Fluss. Es war schon dunkel, als Nail auf Rollerblades eine Runde durch den angrenzenden Park drehte, während ich am Strand blieb und rauchte. Da fand er diesen Jungen, der war so betrunken, dass er kaum sprechen und nicht aufstehen konnte. Irgendwann hatten wir verstanden, dass er zu seinem Bruder wollte. Ich musste dabei an den Jungen denken, der sich nachts betrunken auf Bahngleise setzte, weil kein Zug kam. Einmal kam dann doch einer.

      Diesen Jungen brachten wir zu seinen Freunden, die hatten nicht ganz so viel getankt wie er, aber doch so viel, dass sie sich nicht um ihn kümmern konnten. Der Bruder war nirgendwo zu finden. Wir riefen den Krankenwagen und blieben bei ihm, bis er kam. Inzwischen war es halb Zwei.

      Mein 16. Geburtstag

      Das war der Frühling, in dem ich 16 wurde, und an meinem sechzehnten Geburtstag im Mai lernte ich Jill kennen. Die Sache mit Nail war da schon vorbei. Ich durfte zuhause nicht feiern. Meine Mutter war ausgerastet, als sie eine Telefonrechnung von über tausend Mark bezahlen musste. Das war, weil ich mit dem Jungen, mit dem ich vor Nail zusammen war, ein paar Tage dauertelefoniert hatte. Den Hörer hatte ich nur zum Essen oder Schlafen weggelegt. Mama hatte nichts gemerkt, weil sie 24 Stunden am Tag mit ihrer Ausstellung beschäftigt war. Eine einmalige Chance, ihre Bilder endlich zu zeigen und für uns beide damit Geld zu verdienen – das erzählte sie mir jedes Mal, wenn sie einen Galeristen dazu gebracht hatte, es mit ihr zu versuchen. Und dann verkaufte sie wieder mal bestenfalls eine kleine Zeichnung.

      Der Junge hatte mit mir Schluss gemacht und chillte am Pool in einem 5-Sterne-Hotel in Tunesien, wo seine Alten mit ihm die Osterferien verbrachten. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, wo ich ihn doch liebte und rief ihn täglich mehrmals an, um mir immer wieder erklären zu lassen, warum eine Beziehung jetzt noch nichts für ihn sei. Ich bekam dann kein Geschenk und keine Party. Zwei von den Jungs, mit denen ich damals herumhing, organisierten für mich eine kleine Feier im Rheinpark zu und da tauchte Jill auf. Sie war überhaupt nicht schüchtern, sondern redete laut mit allen, die da waren. Sie hatte schon einiges erlebt und damit hielt sie nicht hinterm Berg. Mir hat sie zum Beispiel gleich erzählt, was ihre Piercings bedeuten. Besonders die Angel Bites faszinierten mich. Die kleinen silbernen Perlen, wo sie oberhalb der Mundwinkel ein Engel gebissen hatte, sollten sie jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, an ihre Zeit auf der Straße erinnern. Und ihre Tätowierung fand ich wunderschön. Eine schwarze, fein gezeichnete Feder in einer orangeroten Perle schien die Stelle hinter ihrem Ohr zu kitzeln. Ihre Eltern machen ihr deswegen keinen Stress, sie haben auch nichts dagegen, dass Jill raucht. Meine Mutter hasst es, wenn ich rauche. Jills Mutter ist ihr monatelang hinterhergegangen und hat sie beobachtet, am Bahnhof. Dabei hat sie mal gesehen, wie sie Kippen aufgesammelt und sich daraus eine gedreht hat. Die Mutter fand es dann besser, dass sie sich Tabak kauft und gab ihr dafür Geld. Ihr Vater raucht Kette und auf langweiligen Familienfesten verschwinden Jill und er gerne gemeinsam für fünf Minuten vor der Tür. Jill hat ein Problem damit, dass ihre Eltern nicht ihre richtigen Eltern sind. Jills Eltern haben sie adoptiert. Ihr richtiger Vater, wie Jill das sieht, war ein Junkie, der an einer Überdosis Heroin gestorben ist, ihre Mutter hat sie abgegeben, als sie ein Baby war. Jill trifft sie ab und zu. Was sie macht und wovon sie lebt, hat sie uns nicht erzählt. Nur dass sie Polin ist und Jill einige Onkels und Tanten in Polen hat, die sie manchmal besucht.

      Dauernd sagte Jill, sie hätte die besten Eltern der Welt und solche Sachen. Trotzdem blieb sie vor zwei Jahren regelmäßig über Nacht von zu Hause weg. Wenn ihr mich fragt, wollte sie herausfinden, wie es sich anfühlt, auf der Straße zu leben. Schließlich haben die besten Eltern der Welt sie in eine geschlossene Anstalt gesperrt, um sie vor sich selbst zu beschützen, so haben sie ihr das jedenfalls erklärt. Aber als man sie da nach einem halben Jahr wieder rausließ, ist sie ganz weg, war monatelang auf der Straße, in verschiedenen Städten. Das hat sie ihren Eltern wirklich übelgenommen, dass sie sie haben einsperren lassen.

      Jill macht immer, was sie will, und das habe ich total an ihr bewundert. Ihren Mut, einfach abzuhauen, als ihre Eltern sie verraten haben.

      Jedenfalls brachte ich sie mit nach Hause und sie gab das nette Mädchen. Das konnte Jill gut. Sie lachte, war freundlich, plauderte mit Mama. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie nicht tatsächlich auch ein nettes Mädchen ist. Meine Mutter tat dann auch so, als würde sie Jill mögen. Und ich erzählte von fröhlichen Grillabenden mit Nachbarn und Familie in der alten Hofanlage in einem Vorort, wo Jill wohnte. Alle machten einen auf heile Welt, aber natürlich merkte ich, meine Mutter spürte, dass da was nicht stimmte. Mit den Piercings kam Mama nicht klar. Sie tat nur so, als würde sie mir glauben, das sei bloß Style, um cooler auszusehen als alle anderen. Weil wir alleine lebten und es bei uns eher sagen wir mal ruhig zuging, fand sie es super, dass ihre Tochter wenigstens bei Freunden eine richtige Familie mit fröhlichen, großen Tischrunden erlebte. Mama hatte sich eine Katze angeschafft. Ein altes, dickes Vieh, das sich kaum noch bewegen konnte. Mama fand das gut, denn so konnte die Katze auch keine Meisen und Rotkehlchen aus dem Garten schnappen, die von Mama gefüttert und geliebt wurden, insbesondere das Rotkehlchen, das jeden Tag auf die Terrasse kam und von ihr Franz getauft wurde.

      Break on through

      Ich entschloss mich mein eigenes Leben zu führen. Kein Cello, keine Vorschriften. Das alles brauchte ich nicht mehr und was konnte meine Mutter schon dagegen tun? Ich konnte machen, was ich wollte, und nichts würde geschehen.

      Ich sagte ihr nicht mehr, mit wem ich mich traf und wo ich den Tag verbrachte. Ich kam einfach mitten in der Nacht nachhause, wenn ich Lust dazu hatte, und ich sagte ihr nicht, wo ich gewesen war.

      Meistens war sie dann noch wach und stellte mich zur Rede. Oder sie schickte mich ins Bett und wartete bis zum nächsten Morgen mit ihren Fragen. An diesem Morgen saß sie vor ihrem Kaffee beim Frühstück und streichelte das Katzenvieh, das sich auf ihrem Schoß eingerollt hatte. Ich zog Kopfhörer über, stellte den Walkman so laut es ging und gab mir die Stimme von Jim, eines morgens ertrunken in der Badewanne eines Pariser Hotels. Ich schmierte Nutella auf ein Brötchen und ignorierte ihre genervten Blicke. Break on through to the other side.

      Ich tanzte andeutungsweise, krümelte dabei mit meinem Brötchen herum und verschüttete ein bisschen Kaffee auf der Tischdecke, als ich mir eine Tasse eingoss. Die Katze hatte sich schon längst in eine stille Ecke verkrochen, als Mama aufsprang, mir die Kopfhörer von den Ohren riss und versuchte über den Tisch hinweg mir den Walkman vom Gürtel zu zerren. Sie stieß dabei meine Kaffeetasse um und ein dunkler Fleck breitete sich auf der weißen Decke aus. Break on through to the other side. Ich schrie jetzt mit Jim um die Wette und überschüttete Mama mit Schimpfworten.

      Und dann tat sie etwas, womit ich im Leben nicht gerechnet hatte. Sie packte mich am Arm, schob mich zur Tür. Geh auf die Straße, wo du hingehörst, schrie sie mich an. Und sie schlug tatsächlich die Tür hinter mir zu. Einige Minuten später, ich stand noch im Treppenhaus, ging die Tür nochmal auf und sie stellte mir meinen Rucksack hin, in den sie ein paar Klamotten gestopft hatte, einen Fuffi und ein Ledersäckchen mit Münzen für die Telefonzelle. Das sollte es jetzt