Die unbeschriebene Welt. Robert Hoffmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Hoffmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742709080
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nach, und ich muss mich entkräftet hinsetzen. Von hier ist die Aussicht ebenso beeindruckend. Der Wasserfall ergießt sich weit unter mir in einen großen See. Der blaue Himmel verfärbt sich zum Horizont in orangefarbene Dunstschwaden, die nur hier und da von blassblauen Hügeln durchstoßen werden. Bänder von grüner Vegetation umrahmen ockerfarbene Felder. Überall zeichnen weiße Blumen kreisförmige Muster. Die gesamte Landschaft wird von immer feiner verästelten Flüssen durchzogen, welche vom See gespeist werden, der wiederum vom Wasserfall genährt wird. Das weite Land ist ein lebendiges, atmendes Organ mit blauem Wasser statt Blut. Eine Brise wirbelt Pollen durch die Luft. Es riecht nach nassem Gras. Nicht weit ab von drei großen Flüssen, kann ich bei einem von ihnen rechteckige Gebäude erkennen. Sie ragen als gelbe Flächen aus dem dichten Wald heraus. Details sind nicht auszumachen, aber es muss eine Siedlung sein. Ob ich von dort komme? Müsste mir dann nicht wenigstens der Name einfallen? Der Name — in diesem Augenblick fällt es mir erst auf — wie ist mein Name?

      Nichts.

       Was ist bloß mit mir passiert? Es ist, als wenn mich eine große Hand packt, mich zurückzieht in das Nichts. Eilig durchsuche ich meine Hosentaschen: eine durchsichtige Plastikkarte, ein zerfranstes Papiertaschentuch — kein Name.

      »Das kann doch nicht ...«

       Moment, das Jackett. In der rechten Tasche spüre ich einen Gegenstand und ziehe ihn heraus. Es ist ein abgenutztes Notizbuch. Hektisch blättere ich durch die Seiten: Endlose Tabellen mit Häkchen, zahlen und Abkürzungen, die mir nichts sagen. Was soll das sein? Auf dem Umschlag befindet sich ein großes P.

      Ein rot verschwommener Lichtreflex erscheint im Blickfeld. Er hat die Form eines Schmetterlings und bewegt sich, meinem Blick folgend, zu den gelben Blüten, dann verblasst er so schnell, wie er gekommen ist. Ich reibe mir die Augen. Es muss einen Weg zur Siedlung geben. Von hier aus gibt es nur noch eine Möglichkeit — zurück zum Wasserfall. Ich richte mich auf und entdecke eine flache Felsebene, dort entlang sollte es mir leichter fallen zurückzulaufen. Meine Gedanken kreisen weiter um das schwarze Loch in mir. Was, wenn meine Erinnerung für immer ausgelöscht bleibt? Kann man überhaupt jemand seien, ohne zu wissen, wer man ist?

      Der Felsen führt mich auf einen Hügel, und obwohl die Steigung nicht stark ist, muss ich meine volle Aufmerksamkeit darauf richten nicht auszurutschen. Als ich die höchste Stelle der Anhöhe erreiche, halte ich inne und blicke mich nach allen Seiten um. Es ist ein Plateau! Ich befinde mich auf einer Hochebene, die wie eine mächtige Pfeilspitze mitten aus dem Wasserstrom herausragt. Somit gibt es nur einen Weg hinunter: durch den Wasserfall. Ich schüttle den Kopf. »Unmöglich«, hauche ich. Wie soll ich unter diesen reißenden Strom hindurch kommen? Gleich unterhalb der Erhöhung bemerke ich einen Pfad, der mit Steinplatten im Boden angedeutet ist. Er führt in einer geraden Linie auf den Wasserfall hinzu. Ich klettere an einem umgestürzten Baum die Böschung hinunter. Der Weg ist etwas erhöht, wirkt beinahe wie der Kamm auf einem Deich, nur, dass dieser direkt in das Wasser führt anstatt parallel dazu. Mein Blickfeld wird nun gänzlich von dem reißenden Wasserstrom eingenommen. Ein dunkler Spalt zeichnet sich in der weiß aufschäumenden Gischt ab. Einige Meter über dem Plateau befindet sich ein Vorsprung, an dem sich die Wassermassen teilen. Der Spalt scheint zunächst zu klein, um hindurch zu gelangen, aber mit jedem Meter, mit dem ich mich nähere, wird deutlich, dass in dieser Umgebung klein sehr relativ ist.

      Es donnert nun ohrenbetäubend. Die Böschung ist hier mit großen Steinplatten verstärkt, sodass das Wasser zu den Seiten abgelenkt wird. Ich stelle den Kragen meines Jacketts auf. Die Wasserwand erzeugt einen kühlen Luftstrom, der mir entgegenschlägt. Das Licht bricht sich in unzähligen Prismen, offenbart kurz seine farbigen Bestandteile und fügt sich wieder zusammen. Das Schauspiel ist von solch erhabener Naturgewalt, dass ich nicht einmal mehr Angst verspüre. Zügig und gebückt schreite ich in den Wasserspalt. Es spritzt überall Gischt auf; meine Hose saugt sich bis zu den Knien mit Feuchtigkeit voll; ich laufe der Dunkelheit entgegen. Ein Name formt sich in meinem Kopf: »Paul!« Meine Stimme erschallt in der großen Kammer hinter dem Wasserfall. Ein Druck entlädt sich von meiner Brust, die innere Unruhe ebbt allmählich ab. Ein gutes Gefühl, seinen Namen zu kennen.

      Der Raum ist mit mehreren Stützpfeilern durchzogen. Von der Decke hängen zwei diffus schimmernde Lampen. Auf der linken Seite befindet sich eine silbermatte Wand. Sie hebt sich deutlich von den sie umgebenen, dunklen Felswänden ab. Ihre Oberfläche wirkt, als wenn sie aus einem durchsichtigen Überzug bestehen würde, unter dem eine silberne Schicht liegt. Ich berühre die Fläche, meine Hand schreckt zurück — etwas leuchtet auf. Im Sekundentakt erscheinen weiße Symbole, dann bricht es ab. Mitten in der Wand befindet sich auf Hüfthöhe eine runde, wenige Zentimeter große Öffnung. Ich berühre die matte Fläche erneut. Die Sequenz mit den Symbolen startet von vorne. Einige Zeichen bestehen aus einem Kreis als Grundform, sie variieren durch Linien und Punkte innerhalb des Kreises. Andere Symbole basieren auf einem Quadrat, das auf verschiedene Weise mit Linien durchzogen ist. Die Quadrate wiederum sind zu Ketten verbunden. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann daraus keine sinnvollen Ziffern, Buchstaben oder Darstellungen ableiten. Außer bei einem Symbol, das wie ein Zahnrad aussieht. — Wie seltsam es ist, dass ich weiß, was ein Zahnrad ist, ohne mich daran zu erinnern, je eines gesehen zu haben. Auf der rechten Seite zweigt ein Korridor ab und endet an einer Treppe. Ich folge unschlüssig dem Gang. Obwohl mir die Erinnerung fehlt, bin ich mir sicher, dass ich diesen Korridor noch nie betreten habe. Aber es ist offensichtlich der einzige Weg nach unten.

      Überall liegen Felsbrocken herum und das Geländer ist an einigen Stellen verbogen. Die ganze Konstruktion wirkt wie eine uralte, große Nottreppe. Vorsichtig gehe ich Stufe für Stufe hinunter. Das Rauschen des Wasserfalls ist hier wesentlich leiser. Der Treppenschacht verläuft in einer Nische, die in das Gestein geschlagen wurde. Das Licht fällt durch einen breiten Spalt seitwärts auf die gesamte Struktur.

      »Ah ...«, höre ich plötzlich.

      »Ist da jemand?«

      »Ja, hier drüben!«, schallt es zurück.

       Auf jeder zweiten Etage befindet sich eine größere Plattform. Die Ebene direkt unter mir ist mit Felsbrocken übersät und Staub liegt in der Luft. In einer Ecke, nahe der Felswand, ragen Hände wild gestikulierend aus dem Geröll. Er hustet heftig. Seine Beine und der halbe Oberkörper sind unter einem Haufen aus Stein und Schutt begraben. Er hat schwarz zerzauste Haare, wirkt blass und hager. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig. Er schaut mich mit großen Augen an und wischt sich den Staub aus dem Gesicht.

      »Paul, richtig?«, stammelt er. »Ich wollt nach oben zum Plateau, dacht, da hätt' sich was bewegt, ... dann gab es diesen Rums und mit einem Mal bebte hier alles.«

       Ich beginne, seinen Oberkörper freizuräumen.

      »Du kennst mich? Ich ... ich bin oben aufgewacht, ... kann mich irgendwie an nichts mehr erinnern.«

      »Ja, das ist hier quasi der Normalzustand.«

       Auch wenn mich seine Antwort verwirrt, entferne ich weiterhin das Geröll.

      »Da, das rechte Bein, es steckt fest«, sagt er.

       Ein massiver, unförmiger Felsbrocken liegt als Letztes auf seinem Bein. Ich fasse ihn am Sockel, rolle ihn langsam herum, aber nach nur wenigen Zentimetern blockiert er. Ich drücke stöhnend, doch meine Schuhe rutschen weg, die Kraft lässt nach und schließlich wippt der Stein zurück.

      »Au!«, schreit er auf, »Paul, vorsichtig! Der Brocken ist zu schwer für dich, ... vielleicht holst du besser Hilfe, von allein wird hier sicher niemand raufkommen.«

      »Warum nicht?«, erwidere ich und taste prüfend den Brocken ab.

       Er deutet mit den Händen auf die Umgebung.

      »Weil sie Angst haben, dass hier womöglich alles zusammenkracht.«

      »Verstehe.«

       Immerhin scheint es ihn nicht davon abgehalten zu haben und mich offensichtlich auch nicht. Er bäumt sich auf und versucht, seinen Fuß herauszuziehen, gibt aber schnell mit einem frustrierten Gesichtsausdruck auf.

      »Das bringt nichts«, meint er. »Wenn du unten in der Stadt erzählst, dass Will hier oben feststeckt, werden sicher einige helfen