„Hab keine Angst, mein Großer, ich werde nicht zulassen, dass sie dich tot prügeln.“
In einem Schuppen kommt der Wolf am nächsten Tag zu sich. Er liegt auf einer grauen Decke. Vor ihm steht ein Trog mit Wasser und einer gefüllt mit Fleisch. Er richtet sich auf und saugt den Duft des Fleisches genüsslich ein, bevor er sich darüber hermacht.
Immer wenn der alte Mann kommt, um nach ihm zu schauen, stellt er sich schlafend. Drei Tage und drei Nächte lang. Er prägt sich den Geruch des Mannes genau ein, auch wie er aussieht. Willi nennt ihn Rolf: Rolf, mein Wolf. Er streichelt sein Fell und spricht beruhigend auf das Tier ein. Eines Tages schleicht der Schwarze davon. Er hat sich erholt. Der Wolf weiß wie schwer es ist, Futter aufzutreiben. Das wird er jetzt selbst wieder erledigen.
Sparen, sparen
Britta kann es nicht mehr hören. Die Kälte im Park vor dem Städtischen Krankenhaus trifft sie wie ein Faustschlag. “Verdammter Winter!“
Sie zieht den Kragen ihres Mantels hoch.
Es ist sehr nebelig. Nach ein paar Metern überkommt sie das Gefühl, als ob im dichten Nebel etwas ist. Etwas Gefährliches, das auf sie wartet.
Sie spricht mit sich selbst: So ein Unsinn, seit Jahren gehe ich nun diesen Weg bei Nacht und Nebel, jeden Tag. Noch nie ist mir irgendetwas passiert. Reiß dich gefälligst zusammen!
Sie schüttelt den Kopf, ihre Schritte werden größer. Dann ist sie da, diese Gestalt, die sich größer werdend aus dem Nebel löst. Erst verschwommen, dann immer deutlicher. Noch ehe Britta recht bewusst wird, was geschieht, trifft sie nun wirklich eine Faust genau zwischen die Augen! Sie fällt und hat das Gefühl, jemand knipst das Licht in ihrem Kopf aus.
Die Sekunden der Bewusstlosigkeit sind zu kurz. Ein kleiner roter Punkt entsteht vor ihrem inneren Auge. Er wird immer heller. Der Punkt wird größer und das Rot darin verschwindet. Jetzt fühlt Britta den Schmerz, die Augen immer noch fest geschlossen, als würde sie etwas aufspießen, von innen verbrennen. Sie fühlt das Monster stoßweise in sich eindringen, ihren Körper auf den eisigen Boden drückend. Ein Röcheln dringt aus den leicht geöffneten Lippen. Eine warme süßliche Flüssigkeit läuft aus ihrem Mund – Blut.
„Gott, lass mich sterben“ flüstert Britta, ohne zu sehen, dass der Tod bereits das Messer zückt.
Die Kommissarin Irina Krupska
Die Kommissarin Irina Krupska fährt gedankenverloren durch die Nacht in Richtung Klinikum. Sie hat einen Notruf erhalten, der nichts Gutes ahnen lässt. Sie ist allein. Ihr Kollege hat Grippe und die anderen sind hoffnungslos überlastet. Die Gewalt hat in der Stadt längst die Oberhand. Banden haben sich gebildet. Es wird geplündert, vergewaltigt, gemordet. Aber wenigstens gibt es noch eine Polizei, eine notdürftige Verwaltung und das Krankenhaus. In anderen Städten fehlt sogar das! Ihre Eltern sind vor zwei Generationen aus Russland hierhergekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Es gibt keine Zukunft mehr – nirgendwo!
Fast alle Kommunikationsmöglichkeiten sind vor Jahren zusammengebrochen.
Nur die Polizei hat wie in „guten alten Zeiten“ Walky-Talky.
Irina hat keine Illusion mehr. Sie tut alles mechanisch, wie ein Roboter.
Wo ist ihre Lebensfreude geblieben?!
Die Anhänger der Schwarzen Zunft sind ihr noch am liebsten. Sie sehen gefährlicher aus als sie sind. Während die, von denen man denkt, sie seien harmlos, oft abscheuliche Kinderschänder und Mörder sind.
Früher hatte sie das befriedigende Gefühl etwas Nützliches zu tun. Seit das Haus ihrer Eltern vor neunzehn Jahren von einem entsetzlichen Sturm hinweggefegt worden ist, hat auch sie den Halt verloren. Dieses Jagen nach etwas, was ihr Vater schlicht DAS BÖSE nennt, hat es einen Sinn? Man schlägt eine Schlange vom Haupt der Medusa und sie wächst sofort nach!
Enkel auf dem Schoß wiegen und Kartoffelsuppe kochen: das würde sie gern tun! Sie wechselt den Gang und biegt in die Seitenstraße, die zum Klinikum führt.
Jane wacht auf
Jane wacht auf. Ihr ist kalt. Das lange weiße Baumwollgewand ist nicht in der Lage, ihren Körper vor der schneidenden Winterluft zu schützen. Sie hockt zusammengekauert in einer Ruine, die so eingeschneit ist, dass man kaum hineingelangen kann.
Durch Zufall hat sie gestern ein Gespräch belauscht. Zwei Männer haben über die Zusammensetzung des Serums gesprochen, welches ihr seit einem halben Jahr täglich gespritzt wird.
Der Größere von beiden macht eine Bemerkung, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.
„Hat es geklappt mit der Schwangerschaft?“, hat der eine gefragt.
Der andere hat gelacht.
„Wenn es gelungen ist, hätten wir unser erstes Baby.“
„Ja“, meint der Größere, „oder sie wird zerfallen, wie all die anderen. Sie wird rapide altern und sterben.“
„Aber wenn sie durchhält, sagen wir bis zum fünften Monat, dann hätten wir unser erstes lebendes Kind.“
Jane schlingt die Arme noch fester um ihre Knie. Ihr gesamtes Vermögen hat sie für den Traum von ewiger Jugend hingegeben und es hat geklappt. Dass sie als Brutmaschine benutzt werden soll, hat ihr niemand gesagt.
Ein Baby! Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie es aussehen wird. Sie wird es lieben und großziehen. Sterben und es anderen überlassen: das will Jane nicht!
Aber welche Alternativen gibt es? Hier sitzen, erfrieren und verhungern oder von den Wölfen draußen in den dunklen Gassen getötet zu werden? Tolle Aussichten!
Als sie zu ihrem siebzigsten Geburtstag den Entschluss fasste, sich dem Experiment anzuschließen, war sie nur darauf erpicht, wie die anderen Frauen wieder jung und schön zu sein. Risiken waren nicht eingeplant. Blind hat sie Nele und ihren Helfern vertraut.
Es geht ihr gut unter der riesigen Kunststoffkuppel, in der es immer nach Blumen riecht. Jeder Wunsch wird ihr erfüllt, und ist er noch so exzentrisch. Einmal hat sie sich ein altmodisches Bett gewünscht, so eines wie es früher die Königinnen hatten. Am nächsten Tag hatte sie ihr Bett.
Verlassen darf sie ihren Goldenen Käfig nur, wenn sie zu den Untersuchungen muss.
Manchmal ist ihr schlecht. Aber das hat man ihr vorhergesagt. Die Zellerneuerung ist schmerzhaft, lautet die Erklärung der Wissenschaftler.
Dort, wo man sie festhält, gibt es keine Spiegel. So kann sie nur ahnen, welche Veränderungen sie auch äußerlich durchmacht. Sie fühlt ihr Fleisch fester werden, ihr Gesicht straffer und doch hat sie keine Ahnung, welche Schönheit aus ihr geworden ist.
Sie schreckt hoch. Stimmen – ganz in ihrer Nähe. Jane steht auf und drückt sich in die hinterste Ecke des Mauerwerkes. Die Tür knarrt.
Der helle Kegel einer Taschenlampe zuckt unruhig durch den Raum. Einem leisen Schluchzen folgend, bleibt er in der Nische hängen, in die Jane sich gezwängt hat.
„Da ist jemand!“
„Hallo! Kommen Sie doch vor, es geschieht Ihnen nichts!“
Während der gelbliche Strahl die Wände absucht, herrscht absolute Stille. Jane überkommt plötzlich das warme Gefühl, in Sicherheit zu sein.
„Oh mein Gott!“
Wie aus einem Munde sprechen die Männer diese Worte. Dann schweigen sie wieder unendlich lange Sekunden aus Angst, dieses wundervolle Geistwesen könnte wieder verschwinden. In ein langes weißes Gewand gehüllt, das die weiblichen Formen nur erahnen